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31. Juli 2003, 14:00
Hinweis: Diesen Beitrag hat Westerwelle selbstver- ständlich nicht für das Liberale Tagebuch geschrie- ben; Westerwelle ist auch nicht gefragt worden, ob “Reform für die Reformpolitik” im LT veröffentlicht werden soll. “Reform für die Reformpolitik” ist ein Meilenstein. Es stimmt aus Sicht des LT einfach alles. Lesen Sie genau: Wort für Wort; erfassen Sie auch die Stimmung des Textes, von Westerwelle veröffentlicht im Sommer 2003 ...
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Reformen für die Reformpolitik von Guido Westerwelle
Vorschläge zur Erneuerung des demokratischen Systems
Die repräsentative Demokratie hat abgehoben. Die Politik ist zu weit weg von den
Menschen. Die Parlamente sind nicht mehr repräsentativ genug. Die politischen Entscheidungsabläufe begünstigen Blockaden, aber erschweren strukturelle
Reformen. Die Bürger können Verantwortlichkeiten für politische Entscheidungen nicht mehr zuordnen. Wer Steuern erhöht, wer noch mehr Bürokratie verursacht,
wird im politischen Entscheidungsprozess verschleiert.
Nicht der Föderalismus verhindert schnelle, bürgernahe Entscheidungen, sondern
der konsensuale Föderalismus anstelle eines Wettbewrbsföderalismus mit klaren Trennungen von Aufgaben zwischen den staatlichen Ebenen.
Deutschland braucht eine entscheidungsfreudigere Politik. Die Gesellschaft ist zum eigentlichen Motor der Veränderungen geworden. Die Bürger sind weiter als
die Politik. Der Veränderungsdruck kommt heute aus der Mitte der Gesellschaft. Wir brauchen mehr Bürgernähe mit mehr direkten Entscheidungsmöglichkeiten
des Bürgers selbst. Wir brauchen eine Generalinventur des politischen Systems mit klaren Neuverteilungen zwischen den föderalen Ebenen des Staates.
I. Drei Maßnahmen zur Stärkung der Bürgermacht
Die Parteien sollen an der politischen Willensbildung der Gesellschaft mitwirken,
sie aber nicht ersetzen. Die Parteien haben den Staat in Besitz genommen. Die Parlamente müssen wieder repräsentativer werden. Die Bürger brauchen mehr Mitwirkungschancen.
1. Bürgerentscheide und Bürgerbegehren
Die FDP will mehr Möglichkeiten für Bürgerentscheide, Bürgerbegehren und
Bürgerbefragungen auch auf Landes- und Bundesebene. Mehr direkte Demokratie soll die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern bereichern.
Entscheidungen, die für unser Volk von grundlegender Bedeutung sind, müssen auch vom Volk getroffen werden. Die Verfassung der Europäischen Union ist eine
Schicksalsfrage Europas. Sie soll auch in Deutschland einem Volksentscheid unterzogen werden. Wenn die Verfassung Erfolg haben soll, dann braucht sie die
Akzeptanz der Bürger. Durch einen Volksentscheid wird aus einem Verfassungsentwurf der Politik eine verinnerlichte Verfassung der Bürger.
2. Kumulieren und Panaschieren
Die Parlamente müssen wieder repräsentativer werden. Dafür muss sich das politische System stärker dem Bürgerwillen öffnen. Die Bürger sollen die
Kandidatenlisten der Parteien durch Kumulieren und Panaschieren verändern können. Das bedeutet, dass die Parteien zwar weiterhin Listenvorschläge
vorlegen, die Wähler aber die Reihenfolge der Kandidaten beeinflussen können.
3. Bundespräsidenten direkt wählen
Der Bundespräsident soll direkt von den Bürgern gewählt werden. Künftig soll nur noch eine einmalige Amtszeit von 7 Jahren möglich sein. Die Bürger sollen Ihren
obersten Repräsentanten selbst bestimmen können. Die Direktwahl des Bundespräsidenten ohne die Möglichkeit einer Wiederwahl hält das Amt freier
von parteitaktischen Erwägungen und ist ein Beitrag zur Identifikation des Volkes mit ihrem obersten Repräsentanten.
II. Drei Maßnahmen zur Stärkung der politischen Entscheidungskraft
Die konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips heißt: Das, was der
Bürger selbst entscheiden kann, soll die Politik nicht entscheiden dürfen. Im föderalen Aufbau hat die Gemeinde Vorrang vor Ländern und Bund. Jede Ebene
des Staates braucht eigene klare Kompetenzen, damit der Bürger erkennen kann, wer was entscheidet. Der Trend zur Zentralisierung von Entscheidungen nach
Berlin muss umgedreht werden, damit wieder die Länder mehr selbst entscheiden.
Politik muss sich unabhängiger machen vom Auf und Ab der Stimmungsdemokratie im Dauerwahlkampf.
1. Reform des Föderalismus
Wir brauchen eine Neuverteilung und Trennung der Aufgaben zwischen den staatlichen Ebenen. Die jeweils ausschließliche Gesetzgebungskompetenz von
Bund und Ländern muss die Regel sein, während die konkurrierende Gesetzgebung die Ausnahme werden muss. Der hohe Anteil von
zustimmungspflichtigen Gesetzen muss reduziert werden. In einer neuen Finanzverfassung sind Mischfinanzierung und Mischsteuern abzuschaffen. Jede
staatliche Ebene braucht eigene, gesicherte Einnahmequellen. Für die Bürger muss sichtbar sein, wer welche Steuer erhebt und wer welche Ausgabe damit
tätigt. Mit mehr Transparenz der jeweiligen Entscheidungsverursacher wächst auch die Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger gegenüber den Bürgern.
2. Bündelung der Wahltermine
Dauerwahlkampf lähmt die Entscheidungen. Wenn Parteien ihren Fahrplan und ihre Haltung nach der jeweils nächsten Wahl - wie jetzt bei der Steuerreform
nach der bayerischen Landtagswahl - ausrichten, wächst der Reformstau immer weiter.
Die Bündelung der Wahltermine auf einen festen Wahltermin pro Jahr für Wahlen
schafft mehr Freiraum für Entscheidungen.
3. Keine Doppelmandate
Gleichzeitige Mitgliedschaften im Europäischen Parlament, dem Bundestag oder
einem Landtag müssen gesetzlich untersagt werden. Wenn die staatlichen Ebenen stringent getrennt sind, darf diese Trennung nicht durch
Interessenkollisionen von Mandatsträgern, die auf verschiedenen Ebenen tätig sind, relativiert werden.
III. Drei Maßnahmen für mehr Vertrauen in die Politik
Parteien und Politiker haben massiv an Vertrauen beim Bürger verloren. Wir müssen verhindern, dass aus der Vertrauenskrise der Politik eine Krise unseres
demokratischen Systems wird. Parteien müssen transparenter sein. Politiker müssen Vorbilder sein.
1. Politikerversorgung reformieren
Die Bezahlung und Versorgung von Politikern muss reformiert werden. Die Höhe der Entschädigung von Bundestagsabgeordneten soll von einer unabhängigen,
beim Bundespräsidenten einzusetzenden Sachverständigenkommission festgelegt werden. Die FDP tritt außerdem für ein privatwirtschaftliches
Versicherungsmodell ein, das es den Abgeordneten ermöglicht, sich eigenverantwortlich um ihre Altersversorgung zu kümmern. Die Normalisierung
der Politikerversorgung nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt ist eine der wichtigsten vertrauensbildenden Maßnahmen für eine Bürgergesellschaft. Wenn
die Politiker mehr Eigenverantwortung von den Bürgern verlangen, müssen sie mit gutem Beispiel vorangehen.
2. Staatswirtschaft beenden
Staatswirtschaft ist das Einfallstor für Parteibuchwirtschaft. Nur wenn der Staat Unternehmen besitzt, kann er parteipolitisch Posten verteilen. Die konsequente
Privatisierung von Staatsbeteiligungen ist nicht nur ordnungspolitisches Gebot. Sie nimmt der Politik den Zugriff auf die Wirtschaft.
3. Parteien und Medien trennen
Die Parteien müssen verpflichtet werden, eventuelle Medienbeteiligungen im Einzelnen öffentlich auszuweisen und die wirtschaftlichen Ergebnisse transparent
und kontrollierbar zu machen. Im Interesse einer klaren Gewaltenteilung und der Kontrollfunktion unabhängiger Medien, der sogenannten vierten Gewalt, sind
langfristig Medienbeteiligungen von Parteien grundsätzlich zu untersagen.
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Unsere Demokratie ist die beste in der deutschen Geschichte. Sie muss aber auch ein lernendes
System sein, das sich fortentwickelt. Die Liberalen wollen der Diskussion über die Erneuerung unseres politischen Systems neue Anstöße geben. Seit den Ankündigungen des Bundeskanzlers in
der Regierungserklärung „Agenda 2010" vom 14. März ist viel geredet, aber kein Gesetz beschlossen worden. Wenn Deutschland weiter auf der Stelle tritt, werden wir weiter zurückfallen.
Mut zu Reformen wollen wir mit entscheidungsfreudigen politischen Institutionen unterstützen.
Dr. Guido Westerwelle
31. Juli 2003
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