Stand: 12. Januar 2002, 18:00
Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz, geißelt die Oberflächlichkeit der Politik in
Deutschland
AUSZUG AUS SEINER PREDIGT IM JAHRESSCHLUSSGOTTESDIENST IM HOHEN DOM ZU MAINZ (Sylvester 2001).
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Der Jahresrückblick hat uns nicht nur vor der großen Herausforderung des 11. September, sondern auch angesichts vieler Katastrophen in
Natur und Technik stärker als sonst erfahren lassen, wie zwiespältig und zerbrechlich unsere Welt und unsere Zivilisation sind, auch wenn wir immer wieder Grund haben, stolz und dankbar zu
sein für viele Errungenschaften. Die Grunderfahrung dieser Zeit scheint mir vor allem die tiefe Ambivalenz unserer menschlichen und gesell- schaftlichen Wirklichkeit zu sein. Oft halten wir
diese Zweideutigkeit und Zwie- spältigkeit unseres Lebens in ihrer Spannung nicht aus und flüchten uns entwe- der in einen abgrundtiefen Pessimismus oder in einen blinden Optimismus. Die
Herausforderung im Sinne des Aushaltens und Austragens der Konflikte in der modernen Zivilisation geht dann zwischen diesen Extremen völlig verloren.
Nun hat sich unsere gesellschaftliche Atmosphäre und Verfassung von den Attentaten in New York und Washington her mindestens an einem Punkt gründ-
lich verändert. Früher konnte man beim Terrorismus immer noch von der Vermu- tung ausgehen, eine verschwörerische Gruppe oder ein Einzelner wollten ein politisches Ziel erreichen, eine andere
Gesellschaftsordnung einführen, und sicher war dies manchmal auch mit sinnlosen Zerstörungen von Sachen und Menschenleben verbunden. Aber die Attentäter waren ein Stück weit immer noch
Revolutionäre, die eine andere und bessere Welt wollten. Deswegen haben sie auch nicht ihr eigenes Leben leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Nun gibt es Men- schen, die offenbar von einem
beinahe blinden oder wirklich blinden Hass auf bestimmte Bereiche des modernen Lebens erfasst sind und sich selbst dabei rücksichtslos und ziellos in die Luft sprengen. Eine
Auseinandersetzung mit solchen Menschen ist schwierig. Sie handeln auch für die Maßstäbe moderner Gesellschaften unberechenbar. Es ist nicht sicher, ob der 11. September in die- sem Sinne so
etwas wie eine einmalige Ausnahme darstellt. Wir wollen es hoffen und uns mannhaft gegen mögliche Überraschungen zur Wehr setzen. Aber es bleibt im ganzen eine grundlegende Unsicherheit
unseres Lebens, die in vielen Phänomenen zutage tritt.
Vor dieser Erschütterung werden auch bestimmte Verhaltensweisen unseres öffentlichen und nicht zuletzt politisch-gesellschaftlichen Lebens nicht
lange be- stehen können. Ich möchte dies kurz an zwei Beispielen erläutern. Da ist auf der einen Seite eine Politik, die in Darstellung und Prozess in einem hohen Maß auf eine wirkliche
inhaltliche Auseinandersetzung mehr und mehr verzichtet. Der Wettbewerb scheint sich immer mehr auf die Insze- nierung von Politik und Selbstdarstellung zu begrenzen. Hauptsache, man ist im
Geschäft, auf dem Bildschirm oder in den Gazetten. Was man konkret für erreichbare Ziele hält und womit tiefgreifende Konflikte gelöst werden sollen, wird weitgehend ausgeklammert. Es ist
erschütternd, wie sehr die Wahrnehmungsfähigkeit unserer Gesellschaft allem Anschein zum Trotz nicht eben erweitert und vertieft, sondern eingeengt und ober- flächlicher wird.
Es ist fast ähnlich, wie öffentlich über echte Probleme verhan- delt wird. Alles, was verhandelt werden muss und hohe Anforderungen stellt an das Problembewusstsein der Menschen, wird auf die Unterhaltungsebene herun- tergezerrt. Es darf nichts mehr schwer sein und die Anstrengung des Begriffs er- fordern. Alles muss leicht eingängig, ganz kurz und möglichst sonnenklar plausi- bel sein. Dazu stehen Histörchen von so genannten Prominenten mit und ohne Skandal in einer peinlichen Weise im Vordergrund. Nicht zuletzt dadurch werden viele Sendungen, die durchaus guter Unterhaltung dienen könnten, unerträglich seicht. Auch die Verantwortlichen rennen in einer oft beschämenden Weise den Einschaltquoten nach.
Hinter diesen Phänomenen, die im Grunde nur Symptome sind, steckt eine Grundversuchung vor allem der so genannten Post- moderne. Es ist eine Eigen-
schaft, die zur Zeit eine gewisse breite Vulgarisation und Banalität erreicht hat. Gemeinsame Verbindlichkeiten werden immer mehr aufgelöst. Darum verlieren sich die tragenden Inhalte. Man
schreit nach dem Wiedergewinn von Werten, ohne dass man jedoch etwas weiß über die Art und Weise, sie wider zu erwer- ben. Es ist ein großer Hang zur Beliebigkeit, die die Unverbindlichkeit
der Maß- stäbe mit einer sehr hohen Individualisierung verbindet. Manchmal hat es freilich den Anschein, als ob es langsam eine Kehrtwende geben könnte, weil man spürt, dass man ohne
Gemeinsinn und Gemeinschaftsverpflichtung kaum ein Zusammenleben wenigstens auf Dauer und sinnvoll organisieren kann ...
Dies werden wir uns nicht mehr lange erlauben können. Viele Ereignisse des Jahres 2001 und besonders eben auch die Katastrophen des 11.09. stellen
uns vor eine solche Herausforderung, dass die seichte Betäubung des öffentli- chen Bewusstseins vor den wahren Fragen einfach nicht mehr standhält. In diesem Sinne könnte diese
tragische Ereignisfolge doch auch zu einer heilsa- men Erschütterung führen, die nicht nur in der Kunst, z.B. des Dramas, sondern auch im Leben oft Voraussetzung für eine wirkliche
"Wende" ist.
... <Zitatende>
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