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Stand: 26. Juni 2005, 0:30

Liberale gleich CDU/CSU?

        Immer wieder ist der Vorwurf zu hören, die FDP sei von der CDU/CSU nicht zu unterscheiden. Voll daneben. Dirk Niebel wirkt erst wenige Wochen als Generalsekretär der Liberalen. Sein Statement zum Thema hat Niebel im Interview mit der Esslinger Zeitung am 24. Juni 2005 formuliert (Fragen von Miriam Hesse):

Frage: Die Umfragen schließen das Szenario nicht aus: Was passiert mit der FDP, wenn die Union bei der vorgezogenen Bundestagswahl die absolute Mehrheit holt?
NIEBEL: Die absolute Mehrheit gibt es nicht für die Union. Deutschland ist strukturell kein Land für absolute Mehrheiten. Außerdem muß die Union irgendwann ein Wahlprogramm vorlegen, da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder es wird sehr konkret, dann werden sie dafür angegriffen, oder es wird nicht konkret genug, dann werden sie dafür angegriffen. Die Union wird einen Partner brauchen.
 
Frage: Wie schätzen Sie die Chancen der neuen Linkspartei ein?
NIEBEL: Damit etabliert sich eine Partei, die große Teile der Protestwählerschaft vereinigen kann, insbesondere in Ostdeutschland. Es ist davon auszugehen, daß sie im Bundestag vertreten sein wird.
 
Frage: Beeinträchtigt das die FDP?
NIEBEL: Die Zahl der Abgeordneten im Bundestag ist festgelegt. Wenn eine neue Fraktion dazukommt, hat sie Abgeordnetensitze, die bei den anderen fehlen. Selbst wenn wir prozentual dazugewinnen, kann es sein, daß wir weniger Mandate haben.
 
Frage: Welche Marke haben Sie sich gesetzt?
NIEBEL: Wir hatten 2002 in der Bundestagswahl 7,4 Prozent. Sie werden nicht vom Generalsekretär der FDP erwarten, daß er weniger haben will als damals. Wir werben um Wähler, die einen echten Politikwechsel wollen und tatsächlich Vorfahrt für Arbeit.
 
Frage: Hat SPD-Chef Muntefering mit seiner Debatte über die Schrecken des Kapitalismus der FDP eine Steilvorlage für den Wahlkampf geliefert?
NIEBEL: Er hat die Debatte darüber eingeleitet, wie viel Funktionärsmacht und Fremdbestimmung wir brauchen. Insofern sind wir ihm dankbar. Gewerkschaftsfunktionäre, die in ihren Glaspalästen denken, sie könnten sich das Land zu Eigen machen, sind nicht zeitgemäß. Aber auch Arbeitgeberfunktionäre sollten sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung erinnern.
 
Frage: Hinterläßt Ihr Parteichef Westerwelle, wenn er im Gegenzug von der Plage der Gewerkschaften spricht, nicht verbrannte Erde?
NIEBEL: Der grobe Keil mußte auf den groben Klotz, um die Diskussion voran zu treiben. Wir wollen starke Gewerkschaften, weil wir nicht wollen, daß Arbeitnehmer ausgebeutet werden. Wir denken, daß die Betroffenen selber wissen, was für sie gut ist. Gesetzlich festgelegte betriebliche Bündnisse für Arbeit würden dazu führen, daß Belegschaft und Unternehmensleitung im beiderseitigen Interesse etwas vereinbaren können, was nicht im Tarifvertrag steht, ohne daß ein Funktionär sagen kann: Ihr dürft das nicht .
 
Frage: Sie sprechen von einem Tarifkartell . . .
NIEBEL: Was die Funktionärseinflüsse angeht, ist es ein Tarifkartell. Das geht sogar noch weiter. Wir sind der Ansicht, daß in Kapitalgesellschaften die Arbeitnehmervertreter aus der Belegschaft und nicht aus fernen Gewerkschaftszentralen kommen sollten. Der grüne Verdi-Vorsitzende Herr Bsirske, der sich als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Lufthansa selbst bestreikt hat, kennt die Bedürfnisse der Belegschaft eigentlich nur dadurch, daß er sich von den Mitarbeitern fliegen und bedienen läßt.
 
Frage: Welche Differenzen gibt es zwischen FDP und Union im Fall einer Koalition?
NIEBEL: Bei der Neuordnung des Arbeitsmarktes werden wir mit Sicherheit entschiedener auf Veränderungen dringen, als das in der Union der Fall ist, weil es dort viele schwarzlackierte Sozialdemokraten gibt, die das verhindern wollen. Auch in der Frage der Freiheitsrechte der Bürger rechnen wir mit intensiven Diskussionen.
 
Frage: Sie meinen vor allem den Lauschangriff-Kompromiß?
NIEBEL: Wir meinen das ganze Spektrum vom Abschießen eines vollbesetzten Passagierflugzeugs auf puren Verdacht hin bis zur Wiedereinführung des Bankgeheimnisses, bis zur Frage, ob man jedes Neugeborene genetisch erfassen muß, weil es irgendwann mal einen Kaugummi klauen könnte . . .

Frage: Geht das Gesundheitsvorsorge-Modell der FDP mit der Kopfpauschale der Union zusammen?
NIEBEL: Wir gehen davon aus, daß die Union uns ihr Konzept einer Kopfpauschale, das sie jetzt ja Gesundheitsprämie nennt, gar nicht zumuten wird. Wir werden einen anderen Weg finden. Entscheidend ist, daß das Gesundheitssystem in jetziger Form nicht reformierbar ist. Wir wollen die gesetzlichen Krankenversicherungen dem Wettbewerb aussetzen. Dadurch wird es enorme Effizienzgewinne geben.
 
Frage: Ist es seriös, zum jetzigen Zeitpunkt zu versprechen, daß es keine Mehrwertsteuererhöhung geben wird?
NIEBEL: Wir wollen sie nicht und haben als einzige Partei ein Steuerkonzept vorgelegt, das einen entlastenden Steuertarif mit sich bringt. In diesem Konzept brauchen wir keine höhere Mehrwertsteuer. Diese Diskussion führen vor allem Ministerpräsidenten, die ihre maroden Landeshaushalte im Blick haben. Eine Steuererhöhung wäre das falsche Signal. Das würde Wachstum abwürgen. Allein die Diskussion ist schon schädlich.

Frage: Sie treten vehement für die Auflösung der Bundesagentur für Arbeit ein.
NIEBEL: Die Auflösung der Behörde ist nur ein formaler Akt, hat aber mehrere Vorteile. Erstens gibt es die blockierende Selbstverwaltung mit Frau ENGELEN-KEFER an der Spitze nicht mehr. Allein das wäre es schon wert. Zweitens gelten dann die Vorschriften der Behörde nicht mehr, die ohnehin keiner mehr anwenden kann, weil es zu viele sind. Dann gilt das Gesetz. Drittens gelten die engen Grenzen des öffentlichen Tarifvertragsrechts nicht mehr. Erst dann kann man die Aufgaben und das Personal neu strukturieren. Es soll drei Säulen geben: eine Versicherungsagentur, die nichts anderes verwaltet als Lohnersatzleistungen, dazu eine kleine Arbeitsmarktagentur auf Bundesebene, die die Transparenz der offenen Stellen gewährleistet, sowie die aktive Arbeitsmarktpolitik vor Ort in kommunaler Trägerschaft und idealerweise steuerfinanziert.
 
Frage: Was will die FDP an Hartz IV korrigieren?
NIEBEL: Als erstes die Kommunalisierung der Aufgabe. Wir wollen eine einheitliche Zuständigkeit. Außerdem bessere Zuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslose und mehr Schonvermögen für ältere Arbeitslose. 200 Euro pro Lebensjahr ist zu gering. Und wir werden alle für die Altervorsorge geeigneten Produkte freistellen, auch die Lebensversicherung, die mit 63 ausgezahlt wird, und nicht aus rein ideologischen Gründen nur Riester-Produkte privilegieren.

 

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