Stand: 16. Januar 2007, 11:00
Venezuela
Nach der neuesten Entwicklung wird “uns” Venezuela in den nächsten Jahren vermutlich mehr beschäftigen. Es bleibt jedoch dabei, dass es keinen Sinn macht, sich in die
Angelegenheiten anderer hereinzuhängen, haben die Deutschen doch genügend damit zu tun, den eigenen Schlampladen auf Vordermann zu bringen.
Bis heute scheinen sich sogar die USA im Fall Venezuela zurückzuhalten.
Zwar werden die Venezolaner für ihren “Ausflug in die Geistesgeschichte” teuer bezah- len, aber es gibt keine andere Wahl, als das Regime des Hugo Chávez auszusitzen.
Der Fall Venezuela ist sowohl
geschichtlich wie besonders perspektivisch lehrreich.
Zur Vorgeschichte
Es gibt zwar ein Schema für die Geschichte Lateinamerikanischer Länder aber die spezifisch “lokalen” Besonderheiten wirken im jeweils überwiegend flächen- deckenden individuellen Bewusstsein stärker prägend als ex Europa gemeinhin angenommen und erst nach mehrjährigem Aufenthalt wirklich verständlich wird. Es mangelt in Lateinamerika daher nicht an Fettnäpfchen.
Erdöl wurde in Venezuela bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gefunden, zunächst als Brennstoff für die Beleuchtung verarbeitet. Obwohl es bis Feuerland an der dem Osthang der Anden folgenden Ebene in Südamerika fast überall Ölvorkom- men gibt, hat sich nur in Venezuela relativ früh, also ab 1920 mit der beginnen- den Motorisierung eine “Erdölindustrie” entwickelt; die anderen schwerer zugäng- lichen Gebiete waren mit Ausnahme von Argentinien wirtschaftlich bis 1973 völlig uninteressant. Um 1960 produzierte Venezuela mit damals 12,5 Mio Einwohnern bei einem Preis von 8 USD/Fass rund 3 Mio Fass täglich. Die Produktion verharrt bis heute etwa auf dem gleichen Niveau, die Anzahl der Einwohner hat sich auf 25 Mio verdoppelt, der Preis des Rohöls auf 50 USD/Fass versechsfacht.
Bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts prägte “Erdölindustrie” Venezuela, den- noch galt das Land als eines mit extremen Einkommensunterschieden. Entspre- chend schockierend auch für lateinamerikanische Verhältnisse die Elendssiedlungen neben immensem Reichtum Einzelner (1). Unter diesen Bedin- gungen wurde früher als sonst in Lateinamerika 1958 das letzte Militärregime
gestürzt. Seit damals bis noch beim Amtsantritt von Hugo Chávez herrschten in Venezuela demokratische Verhältnisse.
40 Jahre Demokratie
“Sozialdemokraten” (AD) und “Christdemokraten” (COPEI) (2), die
in 40 Jahren jeweils mehrfach regierten, galten ab 1958 als fortschrittlich, so wie das auch unsere Beiden
in Deutschland von sich behaupten. Resultat: Anders als etwa in Südost-Asien hat Venezuela in dieser Zeit geistig, institutionell und wirtschaftlich nicht aufgeholt, Chávez gewann die Wahl im Jahr 1998 und konnte sich entgegen massivem Protest u. einem Versuch des Staatsstreiches an der Macht behaup- ten. Chávez beabsichtigt Stand Anfang 2007 anscheinend, die Voraussetzungen für sein langes Verbleiben im Amt des Präsidenten und Regierungschefs zu schaffen.
Es konnte weder Korruption, Schlendrian und Unterentwicklung in den 40 Jahren der venezolanischen Demokratie überwunden werden. Das ist der Nährboden für den Erfolg des Chávez-Populismus. Chávez ist aus europäischer, amerikanischer und teilweise auch lateinamerikanischer Sicht ein, in vielerlei Hinsicht sogar infantil agierender, Spinner, was etwa in den Protokollen seiner Aló-Presidente- Sendungen transparent dargestellt, im Internet nachzulesen ist. Über den mangelhaften Entwicklungsstand von Venezuela muss mehr als “Chávez” nicht geschrieben werden.
Zweierlei ist bedauerlich:
- Die unfassbare Verschwendung von Ressourcen, d.h., der Einnahmen
aus der Erdölindustrie:
Propaganda-Apparat, Propaganda-Gehabe, Propa- ganda-Maßnahmen aller Art und spezifisch im Fall Venezuela die Erdöl- Geschenke an andere, ärmere Länder.
- Erfolg (u.a. im liberalen Sinn) wird sich nicht einstellen, was voraussicht- lich zur Folge haben wird, dass die totalitären Tendenzen seines Regimes sich genau deswegen
zumindest verstärken im schlimmsten Fall sogar auswachsen werden (3). Dies ist vor dem
Hintergrund besonders bedauer- lich, dass mit Stand Januar 2007 sich Chávez noch immer zum strengen aber aufgeklärten Herrscher entwickeln könnte. Könnte! Vermutlich und leider liegen die persönlichen Voraussetzungen
dazu nicht vor.
Zum Innehalten gibt beispielsweise die Tatsache Anlass, dass medizinische Leistungen für die Menschen in den Armensiedlungen nicht längst besser zugänglich
gemacht wurden. Warum ist das geschehen?
Einmal mehr: Eliteversagen. Liberalismus als geistig-kulturelles Medikament
Das ist schlicht und ergreifend die Folge von politischer Dusseligkeit und Trotte- ligkeit, selbstverständlich Konsequenz von insensiblem Gehabe der maßgeben- den Kreise in der Elite. Die unvermeidbare zivilisatorische, mediale und kulturelle Globalisierung unserer Zeit katalysiert das politische Versagen jeder Elite zu- sätzlich. Alles in Allem: Der persönliche Wohlstandsanspruch der Akteure raubt Zeit und trübt den Blick für die (überwiegend schlummernden) Hoffnungen der Millionen (4). Metaphorisch also: Chávez, der aktivierte Zünder einer wuchtigen Ladung Sprengstoff.
Eine
weitere Bedingung war in Venezuela nicht gegeben: Jeweils eine Starke erste Persönlichkeit, umgeben von gleichwertig weiteren starken Persönlichkei- ten, die zwar die Führung (5) des Ersten aus Einsicht (6) akzeptieren, jedoch jederzeit in der Lage sind, der/dem Ersten das Vertrauen zu entziehen und so das Ende “seiner Herrschaft” herbeiführen.
Liberalismus (Würde-Menschenrechte-Bürgerrechte, d.h., Demokratie und deswegen veredelnd Marktwirtschaft, letzten Endes also, positiv gemeint, die Befreiung des Menschen vom Menschen) war in den 40 Jahren venezolanischer Demokratie nicht präsent ...
und könnte / sollte auch in Deutschland - zunächst egal unter welcher Parteifirma - signifikant mehr Gewicht erhalten. Per Knopf- druck? Nein, per Einsicht (6) der Vielen und unter den Gegebenheiten realer Politik, wie sie heute herrschen.
Liberale Geisteshaltung ist allerdings
unverzichtbare Voraussetzung.
---------------- (1) Für Sozialisten aller Schattierungen hat “das Kapital”, gestützt auf imperialistische Regime, “Länder” (spanisch “paises”) wie Venezuela mit Absicht ausgebeutet. Nach dem in den letzten 50 Jahren viele Länder der Welt etwa ihre wirtschaftliche Unterentwicklung überwunden haben, ist noch besser nachvoll- ziehbar, dass die Aussage “Kapital beutet imperialismusbasiert aus” nichts als eine Feststellung - unabhängig vom Richtig/Falsch - ist, die kausal zwar das politische Denken katalysieren kann, aber kausal geistig/kulturell zu wenig bewegt und wirtschaftlich kaum positive Maßnahmen auslöst bzw. bewirkt.
(2) Entzückt reagierten die Christdemokraten in Chile (Regierung Eduardo Frei 1964-70) über den allmählichen Aufstieg der COPEI nach 1964 und 1969 über den Wahlsieg des christdemokraten Rafael Caldera in Venezuela. Der Ausbruch der entsprechenden Epoche mit seinen vielen flammenden Parolen (statt Maß- nahmen, Handlungen und folglich Resultaten) wurde auch “in Europa”, teilweise in den USA hoffnungsvoll gefeiert. Auf den Christdemokraten Eduardo Frei folgte in Chile 1970 der bekennende Marxist Salvador Allende.
(3) Auch in Demokratien verfallen Politiker, die ihre eigene Erfolglosigkeit (meist als erste) bereits eingesehen haben in (relativ) totalitäre Attitüden. Dies gilt im übrigen für soziale Gebilde aller Art.
(4) Etwa die Korruption in der deutschen Politik beruht auf dem gleichen Antrieb.
(5) Führung ist maßgebende Formulierung der Kurzfristziele, einsame (letzte) Entscheidung im riskanten Zweifelsfall und besonders unerbittliche Leistungskon- trolle schon der zweiten Leitungsebene.
(6) Gewalt, d.h., Zwang zu handeln wider die eigene Einsicht, ist keine Lösung. Unabhängig davon ob Gewalt (Herrscher) totalitär oder legal begründet ist.
|