Stand: 11. Oktober 2004, 8:00 (vollständig überarbeitet) / 01.07+29.06.04
Menschenbild
I c h,
dem folgt das Tun des Einzelnen. Jedes andere Postulat negiert die inhärente Eigenschaft des Menschen: Das instinktive Überlebensverhalten.
Es macht keinen Sinn, mit etwas anderem als dem Ich, dem Inhärenten des Mensch-Seins zu beginnen. Das trägt allerdings aus liberaler Sicht nicht weit, denn das Menschenbild (wertepolitische Kernfrage) kann nicht auf die jeweilige Selbstbetrachtung des Einzelnen beschränkt bleiben. Deswegen ist es, bei Verstärkung des Gedankens vom inhärenten menschlichen Überlebensinstinkt, naheliegend das “Ich” auf den “Anderen” zu übertragen, zu projizieren. Es ergibt sich genau dadurch in wenigen Gedankenschritten das Postulat der
Menschenwürde.
Das ist kein neuer Gedanke, denn “ ... den Nächsten wie Dich selber”, wurde nach herrschender Meinung bereits von Jesus Christus in Stein gemeißelt.
Über den Ursprung, die Quelle der Menschenwürde ist eben schon immer nachgedacht worden.
Der DLF kommentiert das Interview mit Bischoff Marx vom 18. Juni 2004
so: “Ein Gottesbezug in der Präambel (der EU-Verfassung) zeige die Grenzen des Menschen und belege, dass Menschenwürde nicht nur vom Willen des Menschen abhänge, sondern vor allem darin begründet sei, dass die Menschen Geschöpfe Gottes seien”.
Es gibt eine weitere nahe liegende Begründung für das Postulat der Menschen- würde:
Das Postulat der Menschenwürde negieren, hieße nämlich den Menschen selbst zu negieren. Das Postulat der Menschenwürde ist unter dem Gesichtspunkt
des inhärenten Überlebensinstinktes des Menschen daher logisch zwingend. Anders: Menschenwürde zu negieren, hat Mensch-Negierung zur Folge. Es trägt das “... Wie-Dich-Selber”, zwar nicht das
Merkmal reflexiven Nachdenkens, beruht aber immerhin auf spiegelbildlicher, eben unreflektierter Gegenseitigkeit und im- pliziert (schließt ein), bejahend, das andernfalls vernichtbare “Ich”. Die Aussage
war also ein Fortschritt.
Dass es mit der Umsetzung des “ ... den Nächsten wie Dich selber” seit eh und je hapert, wird allgemein - mit Achselzucken - leider akzeptiert; dies
ist vermutlich auf die verabsolutierte Aussage zurückzuführen, denn “ ... wie
(im Sinne von “genau so”) Dich selbst” ist ein unerreichbarer Idealtypus, der real projiziert, große Unredlichkeit jedermann tagtäglich vor Augen führen muss. Die politischen Konsequenzen sind bekannt. Kann diesbezüglich nachgebessert werden? Formal durchaus. Real? “...
wie Dich selber” ist letztendlich extrem und negiert, konsequent, also unreflektiert angewendet, bei genauem Hinsehen sogar den angeborenen Überlebensinstinkt des Menschen.
Mit der Aussage “meine Freiheit muss mit der des Anderen kompatibel sein”, sprachlich um Vieles eindeutiger, kommen wir ein Stück
weiter, denn Reflexivität (kompatibel = verträglich) wird Gestalt und Beurteilung menschlicher Beziehungen zusätzlich zu Grunde gelegt. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn dem Menschenbild auch
Autonomie, trotz unverzichtbarer Rechtsordnung (Gesellschaftsvertrag),
des Individuums akzeptiert und vorgesehen wird. Denn das Meine-Deine-Freiheit kann nur das einzelne Individuum gewissenhaft abschätzen - mit der
Irrtumswahrscheinlichkeit die jedem menschlichen Erkennen eigen ist.
Zwar enthält die Rechtsordnung eine Vielzahl von Bestimmungen, die das Meine- Deine-Freiheit etwa unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der
Schwächsten in ein reglementiertes Gleichgewicht bringen (sollten, bzw. sollen). Diese Zielset- zung der Rechtsordnung (
Gesellschaftsvertrag) erzeugt jedoch Irrtum. Wenn Menschenwürde durch die
Rechtsordnung definiert wird, dann führt die Praxis der Menschenwürde zu ihrer perspektivisch aufhebenden Relativierung, damit letzt- endlich zur Negation der Menschenwürde. Es steht die Praxis also in
Wider- spruch zum inhärenten Überlebensinstinkt des Menschen; auch dann, wenn nur einzelne Aspekte von Menschenwürde tangiert sind; auch dann, wenn etwa, wie in der deutschen Verfassung vorgesehen, für
Menschenwürde eine Ewigkeitsga- rantie postuliert ist. Schon zur Frage nach dem “was” “ewig” Menschenwürde sein soll, gibt der Text der Verfassung keine Auskunft; der Inhalt von Menschen- würde bleibt im
Verfassungstext offen u. Einsichten, Erkenntnissen, gar “staats- schützenden” Notwendigkeiten (positiv gemeint) “ausgeliefert”.
Der Grund für dieses Versagen der Rechtsordnung ist eine verhängnisvoll überse- hene Tautologie: Wie oft hören wir etwa im Zusammenhang mit
Menschenrech- ten “weil dies und das in der Verfassung bestimmt ist”! Ist Menschenwürde durch die Rechtsordnung definiert, darf nicht auf Basis der (gleichen) Rechtsordnung, im jeweiligen Einzelnen und
Konkreten Menschenwürde nach den Bestimmungen der (gleichen) Rechtsordnung ausgelegt, interpretiert werden. Im besten Fall er- folgt unvermeidlich, wie bereits ausgeführt, Einengung, d.h., Degradation
von Menschenwürde. Der erste Satz der Verfassung (GG) lautet: “die Würde des Menschen ist unantastbar”. Es stört die Aussage in der Verfassung - vernünftige Handhabung vorausgesetzt - nicht. Aber der
Bezug dort ist überflüssig. Denn Menschenwürde muss so wie so respektiert werden. Diese und andere Aussa- gen müssen außerhalb der Verfassung, etwa in einer Präambel, niedergelegt (nicht: “definiert”)
sein.
Sollten die vorstehenden und folgenden Aussagen, nach Lehrbuchmeinung “den Bestand unserer Rechtsordnung beeinträchtigen”, dann müssen die dazu
kompetenten Mitbürger ihre geistigen vier Buchstaben bewegen, damit diese Beeinträchtigung eben nicht stattfindet. Die Rechtsordnung ist unverzichtbar und nur ausgewiesene Fachleute können ihren inneren
Zusammenhang durchdringen. Jedwede Allzuständigkeit in Grundsatzfragen wird allerdings streitig gestellt.
Kleiner, dennoch feiner Unterschied.
Gebote und Verbote in der Rechtsordnung zu definieren, ist, zu Ende gedacht, widersinnig. Typisch Theoretiker. Partielle Anomie, in der Gestalt
einer Rechts- ordnung à la carte, real beobachtet, die Konsequenz. Augenzwinkern und weg- schauen oder “es gibt andere Probleme”, nicht zulässig. Niemand wird wollen, alle Probleme von jetzt auf nachher
zu beseitigen.
Die Rechtsordnung ist der Gesellschaftsvertrag, also eine Verabredung - auf Dauer. Nicht weniger, nicht mehr. Zu den Vereinbarungen der
Rechtsordnung ge- hören ohne Zweifel Sanktionen für vereinbarungswidriges Verhalten. Sanktionen, so wie die vorlaufenden Verfahren dürfen die Menschenwürde nicht verletzen. Ins- besondere die Autonomie
des Individuums muss erhalten bleiben; der Einzelne entscheidet autonom - das ist ohnehin reale Praxis - ob er das Risiko der Sank- tion eingehen will. Autonomie kann daher innerhalb der Rechtsordnung
nicht defi- niert sein, denn, nunmehr zusammenfassend
Menschenwürde ist absolut
und zwar, wie bereits angedeutet, jenseits der Rechtsordnung. Hierbei ist es völ- lig unerheblich, ob Menschenwürde göttlichen Ursprungs (Es gibt
Grenzen men- schlichen Verhaltens) oder ein Gesetz der Evolutions-Logik (Negation der Men- schenwürde gleich Negation des Menschen) ist. Das göttliche und das logische Gebot stimmen auch in Folgendem
völlig überein:
Menschenwürde wurzelt nicht im Willen des Menschen; die Würde des einzelnen Menschen ist nicht von der Zu-
stimmung eines anderen Menschen, etwa im Rahmen einer Rechtsordnung (Gesellschaftsvertrag), abhängig.
Freuen wir uns über das interessante Ergebnis, macht es doch real keinen Sinn, wenn wir untereinander den/einen ontologischen Streit austragen.
Praktische Konsequenzen. Prinzipien.
- Meine Freiheit muss mit der des Anderen kompatibel sein? Immer. Beide Beziehungspartner bleiben autonom.
- Die Schwächsten vor Untergang
schützen? Immer. Bereits (unmittelbar) vor dem Untergang ist der Einzelne nicht autonom; und wenn der Schwächste gar untergeht, ist ein anderer der Schwächste und wenn der dann auch untergeht ... gehen letztlich alle unter.
Schutz der Schwächsten ist Selbstschutz der Gesamtheit, also dem Überlebensinstinkt jedes Einzelnen geschuldet.
- Die Gretchenfrage: Autonomie von Handlung, Tat? Immer. Es darf keine “Sicherungshaft” geben; (angedrohte) Sanktionen
rauben die Autonomie des Handelns nicht.
- Die Unversehrtheit des Anderen beeinträchtigen? Nie. Autonomie wäre zumindest beeinträchtigt.
- Prävention? Immer. Der Einzelne soll die Rechtsordnung kennen; Autonomie wird dadurch nicht
eingeschränkt. Das Befassen mit dem Anderen stärkt sogar das 1. Prinzip (s.o.).
- Dem Einzelnen das Gewissen enteignen? Nie. Weil Verlust der Autonomie die unvermeidliche Konsequenz wäre.
- Gewissenserforschung? Nie. Schon dann verliert der Einzelne seine Autonomie. Etwa, seinem Gefühl
folgend, die Autonomie zu glauben oder auch nicht.
- Dem Nächsten den Gottesglauben mit rationalen Argumenten rauben? Nie. Gefühle
sind die Grundlage für Autonomie. Gefühle zu verletzen , gar zu zerstören, ist bei dem Gebot Menschenwürde (aus Glauben oder aus Logik) zu beachten, neben Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrt- heit, (vermutlich?) der schwerste denkbare Missgriff.
- Präventive Gewissenserforschung? Nie. Der Einzelne hat (doch noch gar) nicht entschieden.
- Autonomie ist die des Gewissens, der Meinung, des Eigentums? Im- mer. Der Einzelne wäre andernfalls nicht handlungsfähig, d.h., nicht
autonom im Handeln. Hinweis: Wie der Gewinn aus gemeinsamer (i.S. von “mit Anderen”) wirtschaftlicher Tätigkeit in Eigentum übergeht, ist nur “nahe” dem jeweiligen Extremfall (0% / 100%) ein
Thema von Menschenwürde.
- Und Folter? Nie. Autonomie, erst dadurch Integrität (Unversehrtheit), ist unantastbar. Nicht einmal Wahrheit wird dadurch gewonnen. Was im übrigen
ist Wahrheit?
- Demokratie? Immer. Rechtsordnung (der Gesellschaftsvertrag) ist Sache aller.
Fazit und prozesspolitische Konsequenzen
Erst die Klarheit über den Zusammenhang der in der Aufzählung fettgedruckten
Begriffe/Konzepte ist, bei Beachtung der Menschenwürde, die Voraussetzung für die Fortschreibung der bestehenden Rechtsordnung (Es macht keinen Sinn über die Neugründung einer Rechtsordnung nachzudenken). Dies hat zur Folge, dass Sätze wie “die
Verfassung schreibt Menschenwürde vor”, “die verfassungsmä- ßige Autonomie des Menschen ...”, “das in der Verfassung
festgelegte Recht der Meinungsfreiheit ... “ und viele andere mehr, im Sinne von “falsch” schlicht “unzulässig” sind. Denn all das steht fest, bevor die (unverzichtbare) Staatsverfas- sung “konzipiert” wurde oder in Gegenwart bzw. Zukunft fortgeschrieben wird. Ob Menschenwürde göttlichen oder logischen Ursprungs ist, muss nicht entscheiden werden, weil beide Ausgangspunkte zum gleichen Ergebnis führen.
Ohne Frage ist es nicht nötig, dass jedermann “das Menschenbild” wie ein Ban- ner vor sich her trägt. Es gibt aber zahllose Entscheidungen, im
Grenzfall, bei de- nen präzise Klarheit über ein Menschenbild absolut unverzichtbar sind. Wir wis- sen, dass Wertepolitik wohl nie widerspruchsfrei formuliert werden kann. Diese Widersprüche sollten minimiert werden; zumindest sollte aber das Ausmaß der konkreten Widersprüche so genau wie irgend möglich bewusst (gemacht) sein.
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