Stand: 11. Dezember 2005, 20:00 / 20.11.05
Liberalismus und Christentum sind ergänzende Lehren
Liberalismus als Anschauung und politisches Programm entstand im Zuge der Aufklärung. Liberale führten die Auflehnung gegen die absolute Herrschaft der Könige und
Fürsten an; die politische Auseinandersetzung wurde hart geführt, denn die Herrscher hatten es verstanden, ihre Legitimation im Glauben zu verankern und sich bewusst oder auch nur unbewusst spätestens seit Karl dem
Großen mit der Kirche verbunden. Manchmal übernahmen führende Amtsträger der Kirche sogar selber die so genannte weltliche Herrschaft. Die antiklerikale Neigung vieler Liberaler hatte ihren Ursprung im letztlich
weltlichen Machtanspruch der Kirche(n).
Zwar gibt es bis heute Gegensätze zwischen liberaler und christlicher Praxis. In der geistig multipolaren Gesellschaft unserer Zeit besteht jedoch die Aussicht,
dass Gegeneinander in Nebeneinander sich wandelt. In Theorie und Praxis längst angelegt ist das Prinzip der disjunkten gesellschaftlichen Funktionszonen.
Wird dieses Prinzip allseitig streng respektiert, könnte das Nebeneinander sogar in Miteinander übergehen. Es würde nicht weit tragen, diese Perspektive als Traum zu kennzeichnen; wir kommen weiter mit Überlegungen der praktischen Vernunft, die eine Situation maximalen Nutzens schon jetzt erkennen lässt.
Kerngedanke: Die Menschenwürde
Wo ist das Problem, wenn sowohl Christen wie Liberale den Respekt der Menschenwürde als Umstand des Daseins aller postulieren, vertreten und verlangen?
Der christlichen Lehre zufolge ist der Mensch ein Geschöpf Gottes, folglich ist seine Würde unantastbar.
Aus liberaler Sicht kommen wir rational argumentierend zum gleichen Ergebnis. Der instinktive Überlebensinstinkt des Menschen kann seine Wirkung nur entfalten,
wenn jeder Mensch mit diesem Überlebensinstinkt ausgestattet ist, also die Fähigkeit hat zu überleben. Deswegen ist es konsequent und vernünftig, wenn Menschen einander nicht töten und schon den Versuch der Tötung
unterlassen. Weitergehend schulden sich die Menschen folglich den gegenseitigen Schutz der körperlichen Unversehrtheit - das garantiert das Überleben aller. Da die Menschen mit “unterschiedlich hoher”
Intelligenz ausgestattet sind, muss nach dem Prinzip des Respekts der Unversehrtheit auch unterbleiben, dass der eine den anderen Menschen zur Selbstverstümmelung anstiftet (zur Selbsttötung damit so wie so). Wird
dieses per Gedankensprung verallgemeinert ist Ergebnis, dass die Menschen untereinander Gewissensfreiheit, Gedankenfreiheit und damit jede Handlungsfreiheit einräumen, solange weder Gedankenfreiheit noch Unversehrtheit
des anderen dadurch unmittelbar oder mittelbar beeinträchtigt wird.
Offen ist die Frage geblieben, wie oder warum der Mensch mit Überlebensinstinkt ausgestattet ist. Es ist jedoch “Sinn-los” diese Antworten zu
erdenken, denn hätte der Mensch keinen Überlebensinstinkt, gäbe es den Menschen nicht. Zum Überlebensinstinkt gehört die genetisch bestimmte in der Praxis instinktiv gesteuerte Fortpflanzung des Menschen. Es ist jedoch
schon immer zulässig, dass Einzelne aus vielerlei Gründen (etwa widrige Lebensumstände) auf Fortpflanzung verzichten, denn das weibliche Geschlecht ist in der Lage mehr als zwei Kinder zu gebären. Das Überleben der
Menschheit, heute eine Gesellschaft, ist damit grundsätzlich möglich, flach ausgedrückt: machbar. Es ist logisch gesehen daher nicht erforderlich die Frau zur Reproduktion zu zwingen. Aus liberaler Sicht ein
erfreuliches (angenehmes) Ergebnis, weil, auch bezüglich des Reproduktionsverhaltens der/dem Einzelnen Gewissensfreiheit eingeräumt werden kann, ohne das Überleben der Gesamtheit in Frage zu stellen.
Unterschiede zwischen Menschen
Es ist zulässig auf die Kommentierung der Faktenlage zur Unterschiedlichkeit der Menschen zu verzichten. Da die Menschheit heute als Gesellschaft formiert ist,
muss
der Einzelne, wenn die Gefahr des Unterganges eines anderen erkannt ist, dem aktiv entgegenwirken. Da Intelligenz und Denkfähigkeit dem Menschen eigen sind, würde anderes Verhalten dem Prinzip der körperlichen Unversehrtheit widersprechen.
Zum Konzept des Christentums gehört der Seelsorger. Wer diesen Beruf ergreift sorgt sich um die Seele des wie auch immer Bedrängten, potenziell bezüglich der
Unversehrtheit oder sogar des Überlebens gefährdeten Menschen. Nicht jeder, erst recht in der arbeitsteiligen Gesellschaft, muss selber ein solcher Seel-Sorger sein. Aber: Jeder Einzelne handelt nur dann die
Unversehrtheit des je Anderen beachtend, wenn er sich davon überzeugt, dass die Seelsorge-Funktion gewährleistet ist und zweitens jeder Einzelne die Funktion nicht beeinträchtigt, stört oder sogar zerstört. Was alles zu
solchem (individuellen) Handeln in einer staatlich organisierten (also arbeitsteiligen) Gesellschaft gehört, sei hier nicht erörtert.
Den möglichen Einwand, dass etwa der christliche Seelsorger seine Weltanschauung in diese unverzichtbare Arbeit einbringt, wird mit dem Respekt der
Gewissensfreiheit, Gedankenfreiheit, der Menschenwürde also der Toleranz kurzerhand argumentativ totgeschlagen. Weitergehende Argumentation würde im übrigen den Respekt der Menschenwürde zerreden und damit zerstören.
Seelsorge als Tätigkeit wirkt kompensatorisch bezüglich der Tatsache, dass Menschen unterschiedlich sind, damit der Gefahr selektiven Unterganges zu jedem
Zeitpunkt besteht. Ob Seelsorge umfassend die Unversehrtheit jedes Einzelnen schützt muss im Zusammenhang mit dem Thema Christentum und Liberalismus nicht abschließend geklärt werden.
Liberale und Christen in der Gesellschaft
Auszugehen ist davon, dass das Christentum seit 2000 Jahren existiert, der Liberalismus daher bildlich gesprochen in ihrem Schoß geboren wurde.
Weil sowohl der idealtypische Christ wie der idealtypische Liberale Mitglieder der gleichen Gesellschaft sind, muss es als Träger von Würde ihr Ziel sein, in
Frieden nicht nur nebeneinander, sondern miteinander zu leben. Dennoch: Es gibt Konflikte zwischen Liberalen und Christen.
Sowohl Liberale wie Christen postulieren Toleranz als ein zentrales Prinzip. Das bedeutet selbstverständlich keinen Verzicht darauf, die relativen Irrtümer des
jeweils anderen pointiert aufzuzeigen, gar als inakzeptabel zu bezeichnen. Aber dieser Disput muss nicht und soll nicht in “Heuschreckensprache” ausgetragen werden.
Werden die disjunkten gesellschaftlichen Funktionszonen nicht beachtet, wird der Disput zum Konflikt verschärft.
Werden das Prinzip disjunkten gesellschaftlichen Funktionszonen beachtet müssten alle, wollen sie sich jeweils treu sein wollen, damit leben können. Letzteres muss ohne Zweifel beidseitig noch geübt werden.
Aus liberaler Sicht ist es beispielsweise kein Problem, wenn Pfarrer in ihrer Be- rufsbezeichnung zum Ausdruck bringen, sich um die Seele der Menschen, d.h.,
aller zu sorgen und damit insbesondere jenen beizustehen, denen es vorübergehend oder dauerhaft “schlecht geht”? Es kann, wie ausgeführt, nur richtig sein, etwa jenen beizustehen, die
einsam sind. Auch der Umstand, dass angesichts von hohem organisatorischem Aufwand in den Institutionen der christlichen Kirchen, die Seelsorge anteilig eine zu marginale Bedeutung hat, ist kein Grund Lehre und die Kirche etwa schroff zu bekämpfen - erfüllt denn etwa der Politiker alle in seine Tätigkeit gesetzten Erwartungen?
Aus liberaler Sicht beruhen Disput und Konflikte mit dem Christentum auf Irrtümern kirchlicher Funktionsträger. Ein heikler Punkt? Nein, denn die Kirche(n) haben sich in Hunderten Jahren schon oft geirrt. Trotzdem sind die Kirchen gerade heute unangefochten stark, wie etwa das Geschehen um den Tod von Karol Wojtyla, die Wahl von Benedikt XVI, der Weltjugendtag im Sommer 2005 oder der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden zeigen.
Warum soll es ein Problem sein, den Millionen Gläubigen den Gottesbezug etwa in der europäischen Verfassung zu konzedieren?
So zu handeln ist wichtiger, als selber Christ zu sein.
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