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Stand: 16. Dezember 2003, 18:00

Elemente liberalen Denkens und liberaler Politik:

Gerechtigkeit

Pulver neu erfinden, nicht sehr wirtschaftlich. Schon gar nicht, wenn kompe- tente Beiträge verfügbar sind.

Guido Westerwelle sprach am 11.12.03 aus Anlass der 40. Wiederkehr des Todestages von Theodor Heuss zum Thema “Gerechtigkeit”. “Nichts ist un- möglich”, aber so wie es sicher problematisch wäre, eine Destillationskolonne von Westerwelle auslegen zu lassen, so vorteilhaft ist es, vom Fachmann, hier also dem Rechtsanwalt zu lesen und zu erfahren, wie

Ge - RECHT - igkeit

anders, neu, besser konfiguriert werden kann und muss. Schließlich kann liberale Prozesspolitik nicht das Ziel haben, die bestehende Rechtsordnung “über den Haufen zu werfen”.

Weiterhin ist es  “aufregend”, d.h., spannend zu erfahren, wie Westerwelle mit herkömmlicher Begrifflichkeit aufräumt. Und es scheint Konsequenzen über den Text hinaus zu geben ...

Das Liberale Tagebuch bringt hier Auszüge der Rede, um den Blick auf das Wesentliche zu lenken. Der vollständige Text ist in die Sammlung Original-
dokumente des LT aufgenommen, also ebenfalls nachzulesen. Zur Über- sichtlichkeit ist der Text vom Liberalen Tagebuch in Abschnitte gegliedert. Jegliche Hervorhebung, jedoch bewusst unterblieben.


Westerwelle führte u.a. aus:

“...

Heute stehen wir vor der Aufgabe, Deutschland so zu reformieren, dass es den neuen Herausforderungen wieder gerecht werden kann. Dazu dürfen wir uns am politischen Erbe der politischen Gründergeneration der Bundesrepublik orientieren. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch den Fehlentwicklungen stellen, die es in der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg gegeben hat und die in den letzten Jahren immer offensichtlicher geworden sind.

Diese Fehlentwicklungen können nicht durch einfaches "Drehen an Stellschrauben" korrigiert werden. Wer das glaubt, hat die Tiefe der deutschen Krise nicht erkannt oder will sich ihr verschließen.

Die oberflächliche Politik der kleinen Schritte, der marginalen Korrekturen ohne grundsätzlichen Neubeginn beruht auf einer weit verbreiteten Unklarheit grundlegender Werte und Begriffe. Diese begriffliche Unklarheit lässt sich gleichermaßen an den Auftritten vieler Politiker wie an der Berichterstattung durch die Medien festmachen.

Die aktuellen Fehlentwicklungen sind prinzipieller Natur, sie erstrecken sich bis in unser Grundverständnis von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Um sie zu korrigieren, ist es notwendig, sich neben der oft aufgeregten tagespolitischen Debatte vor allem über die prinzipiellen Grundlagen, die elementaren Grundbegriffe unseres Zusammenlebens Gedanken zu machen. Deutschland braucht eine breite öffentliche Diskussion über Werte und Begriffe, um seine Krise zu bewältigen.

Als Liberale steht für uns natürlich die Freiheit im Mittelpunkt unseres Wertesystems. Damit untrennbar verbunden ist die individuelle Verantwortung, die jeder für sein Handeln, für sein Leben trägt. Alles andere muss sich daran orientieren.

Doch auch andere Werte müssen durch uns präzise bestimmt und positiv besetzt werden. Wenn wir Liberale als Partei der Freiheit zum Begriff der Gerechtigkeit keine klare Position beziehen, dann überlassen wir das Feld denjenigen, die mit ihrer unklaren Sprache ihre eigene orientierungslose Politik begründen.

 

I. Gerechtigkeit jahrhundertelang eine Fata Morgana

Gerechtigkeit ist einer der wichtigsten und gleichzeitig emotional am meisten aufgeladenen Begriffe, die mir in diesem Zusammenhang einfallen. Wenn die Bürger eine politische Ordnung als gerecht anerkennen, ist das die beste Garantie für die Stabilität eines Gemeinwesens.

Rechtsstaatliche Grundsätze wie die Gleichheit vor dem Gesetz, die Unabhän- gigkeit der Gerichte oder die Rechtsweggarantie garantieren im engeren Sinne das, was wir als Gerechtigkeit bezeichnen. Gerechtigkeit ist also vor allem ein Begriff, der Ordnungen bezeichnet. Oder sollte ich lieber sagen: "bezeichnen sollte?"

Denn heute wird vor allem über die Gerechtigkeit von Verteilungen gestritten, also darum, wer gerechterweise wie viel vom Kuchen abbekommt. Dieser Kuchen aus Subventionen, Sozialleistungen und vielem mehr ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gewachsen. Vieles wird den Bürgern aus der einen Tasche genom- men und in die andere wieder hineingesteckt. Damit wird nicht etwa das Maß an Gerechtigkeit erhöht, sondern das Maß der Befriedigung verschiedener Interes- sengruppen.

II. Von den Ursprüngen zur Gerechtigkeits-Inflation

Gerechtigkeit ist einer der politisch am meisten missbrauchten Begriffe unserer Zeit. Vor allem der inflationäre Gebrauch dieses Begriffes in Bezug auf die ver- schiedenen Umverteilungsmechanismen in unserer Gesellschaft hat dazu beige- tragen.

Die beiden grundlegenden Verwendungen von Gerechtigkeit wurden durch Aristo- teles mit seiner Unterscheidung in iustitia distributiva (Verteilungsgerechtigkeit) und iustitia commutativa (Tauschgerechtigkeit) bis heute gültig beschrieben.

Die heute überwiegenden Verwendungen von Gerechtigkeit im Sinne einer ge- rechten Verteilung von Gütern, also auf die iustitia distributiva, haben zunehmend den Blick verstellt auf die Bedeutung von Gerechtigkeit, die für Liberale die vorran- gige und entscheidende ist: auf die iustitia commutativa.

Für uns Liberale hat die Tausch- und Regelgerechtigkeit Vorrang, weil nur sie mit der Freiheit der Menschen vereinbar ist. Die Konzentration auf die sogenannte Verteilungsgerechtigkeit hat dazu geführt, dass der Ruf nach Gerechtigkeit vor al- lem ein Ruf danach wurde, vom Staat ein Mehr an materiellen Gütern zu erhalten.

Die Systeme der sozialen Sicherung dienen nicht mehr hauptsächlich dazu, die Menschen in Notlagen abzusichern. Sie sind vielmehr immer mehr ein Mechanis- mus geworden, um Einkommen umzuverteilen. Auch im Steuersystem ist viel von Gerechtigkeit die Rede. Neben die Umverteilung tritt hier noch die  sogenann- te Einzelfallgerechtigkeit. Um diese Politik zu ändern, müssen wir den Gerechtig- keitsbegriff befreien aus der Gefangenschaft der Umverteilungspolitiker.

Gerechtigkeit sollte sich nur auf Regeln und Ordnungen, nicht aber auf die Ergeb- nisse der Handlungen beziehen, die unter diesen Regeln ablaufen. Das Ziel der Gleichmacherei durch staatliche Umverteilung ist zutiefst ungerecht. Es nimmt den Menschen Chancen, es bestraft die Fleißigen und belohnt tendenziell Tritt- brettfahrer. Gerecht ist dagegen eine Ordnung, die den Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

III. Deutscher Staat und Gerechtigkeit

Bezogen auf die deutsche Situation heißt das: Wir brauchen Rahmenbedingun- gen, unter denen die Bürger wirklich die Verantwortung für sich und andere wahr- nehmen können. Eine Ordnung der Freiheit bietet das Höchstmaß an Gerechtig- keit, das durch die Politik zu erreichen ist. Eine derartige Ordnung der Freiheit muss den Menschen vor allem eines bieten: Chancen, ihr eigenes Leben zu be- stimmen, ihre Position zu verbessern. Das ist es übrigens, was in vielen Berei- chen das vielgeschmähte "amerikanische" System tut. Dort ist beispielsweise die Verweildauer von Menschen in der Abhängigkeit von staatlichen Sozialleistun- gen im Durchschnitt viel geringer. Deutschland hat nicht nur eine höhere Arbeits- losenrate als die USA, Deutschland hat vor allem einen viel höheren Anteil an Langzeitarbeitslosen. Das ist ein Ergebnis der verhängnisvollen Umverteilungs- mentalität, die auf einer fehlgeleiteten Gleichheitsvorstellung beruht. Unter Gleich- heit verstehen wir Liberale vor allem Gleichheit vor dem Gesetz, nicht die Gleich- heit der Einkommen. Um die Einkommen der Menschen unabhängig von ihrer Leistung anzugleichen, müssen sie nämlich vom Staat ganz ungleich behandelt werden.

IV. Fairness statt Solidarität

Wir treten als Liberale auch dafür ein, dass die Menschen einen fairen Zugang zu den Lebenschancen erhalten, die ihnen nur eine freie Gesellschaft bieten kann. Es ist sinnvoll, an dieser Stelle nicht den belasteten Begriff der Gerechtigkeit oder gar der sozialen Gerechtigkeit zu verwenden, sondern von Fairness zu sprechen.

Die heutigen Systeme in Deutschland verschließen eher Lebenschancen als dass sie diese eröffnen. Deshalb sind sie unfair.

Schauen wir nur auf unser Bildungssystem. Gute Bildungschancen sind die entscheidende Grundlage dafür, dass sowohl Deutschland als Ganzes als auch jeder Einzelne die Zukunft meistern kann. Soweit sind sich wahrscheinlich alle politischen Richtungen einig. Doch wenn es um den Weg geht, wie wir zu einer wirklichen Verbesserung des Systems gelangen, kommen wir schon wieder in den Bereich der Werte und Begriffe.

Die Verteidiger des Status quo berufen sich sofort wieder auf die Ergebnisgerech- tigkeit. Aus der Forderung: "Gleiche Bildung für alle" hat sich ein Bildungssystem ergeben, das gleichermaßen katastrophale Ergebnisse hervorbringt. Das ist nicht gerecht, sondern schlecht.

Das Ziel der Bildungspolitik kann es deshalb aus liberaler Sicht nicht sein, mög- lichst gleiche Ergebnisse zu erzielen. Vielmehr müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Kinder und Jugendlichen in Deutschland ihren unter- schiedlichen Begabungen entsprechend die individuell besten Chancen erhalten. Das ist gerecht.

Menschen, die aus guten Gründen Hilfe brauchen, muss in einer freien und fairen Gesellschaft geholfen werden. Diese Hilfe muss aber vor allem darin bestehen, ihnen einen Weg zurück in die Selbstverantwortung zu öffnen.

Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt heißt, dass die Eintrittsbarrieren in den Ar- beitsmarkt beseitigt werden müssen. Wir brauchen eine Öffnung im Bereich der Niedriglöhne, denn es ist unfair, wenn Menschen mit weniger guten Qualifikation keine Chance erhalten, eine Arbeit anzunehmen und sie stattdessen zu Almo- senempfängern gemacht werden.

Der Kampf der Arbeitsplatzbesitzer gegen die größer werdende Gruppe der Ar- beitsuchenden weitet sich in Deutschland aus. Und er wird in hohem Maße auf der Funktionärs-Ebene geführt. Ein Beispiel ist das Kartell der Gewerkschafts- funktionäre genauso wie der Arbeitgeberfunktionäre, die sich beide vor der unlieb- samen Konkurrenz unabhängiger Betriebsräte vor Ort schützen wollen.

V. Denkfehler Einzelfallgerechtigkeit

Die Gerechtigkeit ist in Deutschland aber nicht nur durch Umverteilung, Gleich- macherei und Protektionismus zunehmend auf der Strecke geblieben. Vielmehr gibt es einen weiteren Denkfehler, der sich immer mehr eingebürgert hat: das Streben nach so genannter Einzelfallgerechtigkeit im Gesetzeswesen.

Dieser Begriff ist an sich positiv besetzt. Die geltenden Regeln sollen von unpar- teiischen Richtern fair auf die vielfältigen Einzelfälle angewendet werden können. Doch in Deutschland ist mittlerweile etwas anderes passiert: Es gibt inzwischen für jeden Einzelfall eine Regel oder eine Ausnahme. Das ist der Idee liberaler Ordnungspolitik diametral entgegengesetzt und macht das Steuersystem keines- falls gerechter, sondern nur zu einer groß angelegten Arbeitsbeschaffungsmaß- nahme für Bürokraten und Steuerberater.

Regeln oder Gesetze, die kaum noch ein Beamter und erst recht kein Bürger mehr überblickt und versteht, können per se nicht gerecht sein. Weil wir als Liberale konsequent für die Eigenverantwortung des Bürgers eintreten, sind wir genauso konsequent für eine radikale Vereinfachung der Gesetze.

Natürlich ist auch noch nicht jedes einfache Gesetz ein gutes und gerechtes Gesetz. Gesetze sind dann gut und gerecht, wenn sie die Rechte der Einzelnen fair schützen, dem Einzelnen möglichst viel Spielraum für freie Entscheidungen lassen und insgesamt einen verlässlichen ordnungspolitischen Handlungsrahmen schaffen.

Deshalb sind mittlerweile große Teile unserer Sozialgesetzgebung oder auch der Steuergesetzgebung schlechte, ungerechte Gesetze. Aber anstatt das zu än- dern, verunsichert die gegenwärtige Politik durch ständige Veränderungen, die gewöhnlich alles noch komplizierter machen, die Bürger immer weiter und macht ihnen verantwortliche Entscheidungen fast unmöglich.

VI. Gerechtigkeit per Interessengruppen “durchsetzen”?

Die Angst vor klaren und richtungweisenden Entscheidungen, die natürlich einen Aufschrei der verschiedensten Interessengruppen nach sich ziehen würden, lässt Deutschland immer tiefer in die Krise sinken. Die mangelnde Konsequenz bei den anstehenden Reformen in Deutschland verschärft die Ungerechtigkeiten, die in Deutschland über die letzten Jahrzehnte hinweg entstanden sind. Das ist vor allem schlimm gegenüber der Jugend und den kommenden Generationen, deren Zukunftsaussichten schlechter sein werden als diejenigen, die uns unsere Eltern eröffnet haben. Das wollen wir ändern.

 

Wir wollen uns auf die Grundsätze der gerechten Ordnungspolitik besinnen, die zu den Zeiten von Theodor Heuss das Erfolgsrezept des wirtschaftlichen und sozialen Aufschwungs Deutschlands waren. Wir wollen wieder Wohlstand für alle ermöglichen. Wir wollen dafür funktionierende Rahmenbedingungen setzen, anstatt die Bürger zu belästigen und zu belasten. Wir wollen zurückkommen zu einer Ordnung, die ein Höchstmaß an individueller Freiheit und ein faires Maß an Sicherheit in sich vereint. Eine solche Ordnung ist gerecht.

Für eine solche gerechte Ordnung stehen wir. Nur wir, niemand sonst. Deshalb dürfen wir als Liberale nicht aufhören, eine an unseren Grundwerten orientierte Politik zu machen.

...”

Dr. Guido Westerwelle, MdB, Vorsitzender der Freien Demokratischen Partei

 

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