Stand: 10. August 2004, 12:00
Kleiner liberaler Katechismus
Flach, Karl-Hermann, Die Zukunft der Freiheit, Frankfurt a/M, 1971:
Das Schätzlein in jeder Sammlung liberaler Literatur. Faszi- nierend noch heute der Text; interessant wegen dem historischen Bezug, der Problemlage von 1971, heute zu lesen. 1971: (a)
“1968” hatte sich gelegt, (b) ca. 15 Jahre “vor Gorbatschow”, (c) ca. 20 Jahre vor dem Zusammenbruch der SU.
Damals gab es in der FDP den Disput zwischen Sozial- und Wirt- schaftsliberalismus. Unter den damaligen Umständen ein Stück Konzession an den Geist der
Zeit. Liberalismus ist heute ein ver- einigtes Programm, das die FDP einmütig vertritt. Die politische Qualität und damit die Stärke des Programms haben dadurch enorm gewonnen. Vermutlich würde KH
Flach sein Buch also auch das Kapitel III “Kleiner liberaler Katechismus” heute anders formu- lieren. Deswegen wurde das erwähnte Kapitel von der LT-Redaktion “soweit
erforderlich” zum Teil umgeschrieben und “soweit erforder- lich” in aktuelle Diktion umformuliert, hierbei die Absatzgliederung beibehalten, so dass der interessierte Leser die
überarbeiteten Aussagen hier mit der Urfassung von KH Flach leicht verglei- chen kann. Die wichtigste Änderung betrifft das Thema Kapitalis- mus. Um die Kontroverse “mit dem Kapitalismus”
aufrecht halten zu können, wurde dieser Begriff - fair - neudefiniert. Kapitalismus ist die politisch wirksame Herrschaft des Kapitals - ohne Zweifel eine Vergangenheitslehre. Wer Liberalen Kapitalismus-Hörigkeit in alter oder neuer Fassung vorwirft, schließt sich selbst ins Bein.
Lesen Sie den unveränderten Problemangriff und den unveränderten Gedankenfluss, zu “Kleiner liberaler Katechismus” von KH Flach, die noch immer
faszinieren.
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Darüber, was Liberalismus eigentlich bedeutet, gibt es Streit etwa mit vielen Konservativen, die sich aus Tradition liberal nennen, und mit jungen Sozialisten,
die nicht bemerken, dass sie enttäuschte Liberale sind. Dabei ist die Antwort ziemlich einfach.
Liberalismus heißt Einsatz für größtmögliche Freiheit des einzelnen Menschen und Wahrung der menschlichen Würde in jeder gegebenen oder sich verändern-
den gesellschaftlichen Situation.
Liberalismus bedeutet demgemäß nicht Freiheit und Würde einer Schicht, sondern persönliche Freiheit und Menschenwürde der größtmöglichen Zahl.
Freiheit und Gleichheit sind nicht nur Gegensätze, sondern bedingen einander.
Die Freiheit des Einzelnen
muss mit der Freiheit des Anderen kompatibel sein. Insoweit ist Liberalismus nicht Anarchismus, sondern u.a. insbesondere eine
politische Ordnungslehre (Rechtsstaat, Demokratie, Marktwirtschaft
, schlanker Staat
).
Der Liberale weiß, dass der Mensch nicht im Besitz letzter Wahrheiten ist. Er
glaubt ihn nur auf der Suche danach. Er weiß, dass der Weg der Erkenntnis mit Irrtümern gepflastert ist und die Wahrheit von heute den Irrtum von morgen um-
schließt. Auch liberale Dialektik geht davon aus, dass Thesen und Antithesen einander gegenüberstehen, sich zu Synthesen vereinigen und damit neue Thesen
bilden, denen gegenüber neue Antithesen entstehen müssen und werden. Doch im Gegensatz zu zeitgenössischen Spielarten des dialektischen Materialismus
hört für den Liberalen die Dialektik nicht auf. Es gibt nach seiner Auffassung weder politische Endlösungen noch gesellschaftliche Endzustände. Die unver-
meidlichen menschlichen und gesellschaftlichen Widersprüche werden nicht aufgehoben, sondern erhalten bestenfalls eine neue Qualität. Insofern ist Libera- lismus eine politische Relativitätstheorie der Werte.
Der Liberale akzeptiert daher keine Tabus. Für ihn ist jeder Tatbestand der Erörterung offen und jede Meinung der Diskussion würdig. Der Liberale entheiligt
daher zwangsläufig alle Zonen, die mit vorgeschobenen Argumenten übergeord- neter Art aus meist interessenbedingten Gründen für die allgemeine Debatte gesperrt werden sollen.
Da mit Liberalismus keine letzten menschlichen Wahrheiten und politischen Endlösungen postuliert werden, sind geistige Freiheit und Schutz der Minderhei-
ten die Kernstücke seines Programms. Jede politische und gesellschaftliche Fortentwicklung beginnt als Abweichung von der herrschenden Lehre. Wer
abweichende Ideen als Häresie verbietet und kritisches Leugnen des Gültigen als Ketzerei verfolgt, behindert nach liberaler Auffassung den gesellschaftlichen und
politischen Fortschritt. Niemand weiß, welche Minderheiten von heute die Mehr- heiten von morgen sein werden. Wer Minderheiten in ihren Rechten einschränkt,
zwängt die Gesellschaft in Formen der Erstarrung. Geistige Freiheit und Minder- heitenschutz sind daher für die Entwicklung der Gesellschaft unverzichtbar. Ihre Voraussetzung ist Toleranz aus Respekt. Auch nach den liberalen Erfahrungen kann selbst Toleranz repressiv wirken, doch das beeinträchtigt nicht ihren Grundwert, sondern umschreibt ihre gelegentliche Ohnmacht. Es kann nicht um
die Denunziation von Toleranz gehen, der Liberalismus ringt um ihre laufend aktualisierte Funktionsfähigkeit, d.h, reale Praxis.
Weil der Liberale erkannt hat, dass der Mensch nicht alles weiß und auch nicht alles und jedes erkennbar und planbar ist, widerspricht er mit aller Kraft der Auffassung, dass der Zweck die Mittel heilige. Für den Liberalen lehrt die Erfah-
rung, dass auch beim edelsten Zweck bei Anwendung verwerflicher Mittel eine Verselbständigung dieser Mittel eintritt, die den Zweck am Ende erschlägt,
überwuchert oder vergessen macht. Die Angemessenheit der Mittel für jede Zweckbestimmung ist daher eine Grundforderung des Liberalismus. Das ist das Kernstück liberaler Ethik.
Leben verspricht Freiheit. Wo kein Leben ist, kann sich auch keine Freiheit mehr entwickeln. Wo Unfreiheit herrscht, aber Leben besteht, behält die Freiheit
eine Chance. Insofern ist der Liberalismus kriegsfeindlich. Krieg zwingt jede Partei zu derart konzentrierter Gewaltsteigerung, dass auch die Freiheit der
Freiheitsverteidiger in Gefahr gerät, zu ersticken. Das Gleiche gilt für die Gewaltanwendung überhaupt. Gewalt trifft Gerechte und Ungerechte, Schuldige
und Unschuldige, Beteiligte und Unbeteiligte. Gewalt produziert Gegengewalt und zwingt die Gewaltanwender zu ständiger Gewaltsteigerung, so dass am Ende
das Mittel der Gewalt den Zweck der Gewaltanwendung bei weitem übersteigt.
Auf der anderen Seite gibt es ein Recht auf Notwehr. Es besteht für Staatenge- meinschaften und für Staaten ebenso wie für gesellschaftliche Gruppen und
Individuen. Die liberale Ablehnung der Gewalt und das liberale Recht auf Vertei- digung der Freiheit in Notwehr bilden einen Widerspruch. Klar ist für den Libera-
len, dass Gewalt auf die Wahrnehmung des Rechts auf Notwehr beschränkt bleiben muss. Doch auch Notwehr birgt die Gefahr ihrer Überschreitung in sich,
und selbst rechtmäßige Verteidigung unterliegt dem fatalen Gesetz ständiger Gewaltsteigerung. In diesem Widerspruch muss auch der Liberale leben. Der
Liberalismus wird sich daher im Verkehr der Staaten und innerhalb der Gesell- schaft stets um eine Entspannungsfunktion bemühen, um diesen Widerspruch zu relativieren.
Gesellschaft verändert sich ständig. Erstarrte Macht- und Besitzverhältnisse wirken freiheitsfeindlich. Im Liberalismus muss daher vorgesehen werden, jede
Gesellschaft für Veränderungen offen zu halten. Er kann deshalb die gesell- schaftlichen Konflikte nicht leugnen oder verschleiern, sondern muss sich stets
um Spielregeln bemühen, sie menschenwürdig auszutragen. Liberalismus kann daher niemals statisch, sondern muss stets dynamisch begriffen werden.
In jeder Gesellschaft geht es um Macht, Interessen, Intrigen, um Ehrgeiz, Ein- fluss und Eitelkeiten, gibt es Leistungen und Versagen, Fehler und Schwächen,
Erhabenes und Lächerliches. Es gab und gibt keine menschlichen Gesellschaf- ten ohne diese menschlichen Erscheinungen. Totalitäre Staats- und Gesell-
schaftskonstruktionen unterscheiden sich von den liberalen und demokratischen nicht dadurch, dass diese Erscheinungen gebannt wurden, sondern durch die
schlichte Tatsache, dass sie nicht öffentlich erörtert werden dürfen. Wer eine Gesellschaft ohne Schwächen und Konflikte als Wirklichkeit ausgibt, informiert
nicht, sondern verschleiert. Wer die ideale Gesellschaft ohne Machtkämpfe und Interessengegensätze in der Geschichte aufzufinden glaubt, unterliegt einem
idealistischen Irrtum oder verfälscht die Historie. Die vollkommene Gesellschaft als Ziel war und bleibt Utopie. Die ideale Gesellschaft als vorgegebene Wirklich-
keit war und bleibt Ideologie. Das gehört zur liberalen Erkenntnis.
Natürlich haben Ideologie und Utopie ihre gesellschaftliche und historische Funktion. Utopien muss es geben, wenn es Veränderungen der Gesellschaft
geben soll. Und Ideologien wird es geben, solange es (relativ) stabile Gesell- schaften gibt. Der Liberale lässt sich aber von keiner Utopie verzaubern und von
keiner Ideologie verführen. Er sieht beide in ihrer relativen Bedeutung, sozusagen entschleiert. Und er beobachtet mit Argwohn den Umschlagprozess von Utopie in
Ideologie, sobald die Verfechter der Utopie sich etablieren und ihre Denkmodelle mit der Realität konfrontiert werden.
Demokratie und Liberalismus stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander und bedingen doch einander. Demokratie ist das Verständnis einer Herrschafts-
form, vereinfacht: die Lehre von der legitimen Herrschaft der Mehrheit. Demokratie kann totalitär sein, wenn die Herrschaft der Mehrheit rücksichtslos die Rechte
der Minderheiten verletzt und ihre Chance beeinträchtigt, Mehrheit zu werden. Liberalismus ist eine Auffassung vom Herrschaftsgrad. Da der Liberale weiß,
dass in jeder Gesellschaft das Element der Macht wirkt und diese Macht nicht zu eliminieren ist, versucht er sich nicht an der Abschaffung, sondern sieht seine
Aufgabe in der Begrenzung, Aufteilung und Kontrolle der Macht und im Offenhal- ten der Chance zur Ablösung derjenigen, welche die Macht ausüben. Liberalis-
mus und Demokratie sind in vielen Ländern eine glückliche Verbindung einge- gangen.
Die geistige Stärke des Liberalismus bedingt seine organisatorische Schwäche. Seine Relativitätstheorie zwingt den Liberalen dazu, auch ständig die eigene
Position in Frage zu stellen. Die liberale Ethik von der angemessenen Zweck-Mittel-Relation führt bei den Liberalen zu intellektuellen Skrupeln beim Kampf um
die Macht und im Gebrauch der Macht. Die liberale Auffassung von Toleranz führt zwangsläufig zum Verständnis für die Position gegnerischer Ideologen oder
Utopisten, obwohl bzw. auch dann, wenn diese ihrerseits für den Liberalen keine Spur von Verständnis aufbringen. Die liberale Entspannungslehre wiederum führt
zu vordergründiger Schwäche gegenüber politischen Gegnern, die etwa als Konservative in vermeintlich legitimer Verteidigung von Recht und Ordnung oder
etwa als sozialistische Utopisten im vermeintlichen Besitz der reinen Lehre in der Gewaltanwendung nicht so pingelig sind. Der Liberale ist bereit und will diese Schwäche mit seinen Gegnern inkauf nehmen.
Probleme bereiten dem Liberalen seine (scheinbaren) Freunde. Der Kapitalis- mus belastet, wenn als vermeintlich logische Folge des Liberalismus;
Prinzipienfestigkeit schützt davor Kapitalismus als Hypothek zu empfinden. Die Befreiung des Liberalismus aus seiner Klassengebundenheit und damit vom Kapitalismus ist daher die Voraussetzung für die Machbarkeit der liberalen Bürgergesellschaft.
Der Liberalismus ist im 19. Jahrhundert erstarrt. Nachdem es Liberalen gelang, eine der größten historischen Leistungen der Neuzeit zu vollbringen, nämlich den
Übergang vom Absolutismus zum verfassungsmäßigen Rechtsstaat zu erzwin- gen, haben sich Liberale auf diesen Lorbeeren ausgeruht und nicht erkannt, dass
damit nur der erste Schritt zu einer liberalen Entwicklung der Gesellschaft ge- leistet worden war.
Der Kulturliberalismus wurde vom Wirtschaftsliberalismus in den Schatten gestellt. Die individuellen Interessen eines sich konsolidierenden Bürgertums
erhielten Vorrang vor dem liberalen Grundanliegen, nämlich Freiheit und Würde für möglichst viele Menschen zu sichern. Der Rechtsliberalismus versteinerte
zum Rechtspositivismus, der etwa meinte, die Gleichheit aller vor dem Gesetz sei erfüllt, wenn sie so im Gesetz steht, ohne den sozialen Bezug zu sehen. Der
Kultur in der Gesellschaft sei automatisch gegeben, wenn die Gleichheit der Bildungschancen vorhanden sei, und begnügte sich wiederum, diese auf dem
Papier anstatt in der sozialen Realität zu sichern. Hinzu kam die Kapitulation eines starken Flügels der Liberalen vor dem aufkommenden Nationalismus und
Imperialismus, der geradezu klassisch in der Zustimmung der sich dann abspal- tenden Nationalliberalen zur Indemnitätsvorlage Bismarcks nach dessen verfas-
sungswidrigen Militärhaushalten während des Krieges 1864 und 1866 zum Aus- druck kam.
Vollends pervertierte der Liberalismus mit der Übernahme der calvinistischen Prädestinationslehre durch einen großen Teil seiner Anhänger. Die Auffassung,
wirtschaftlicher Erfolg sei der Beweis des Ausgewähltseins durch Gott oder wen auch immer, die selbst heute noch in Unternehmerkreisen lebt, ist krass antilibe-
ral. Der Liberale weiß zwar, dass die Menschen nicht gleich sind, gerade darum muss er sich notfalls radikal um eine Gleichheit der Startchancen bemühen, damit jeder nach seinen Gaben, Wünschen, seinem Leistungsvermögen und
seiner Leistungsbereitschaft, übrigens zum Wohle aller, seinen Platz in der Gesellschaft findet - unabhängig von Herkunft, Erbteil, Gesundheit. Das große
Wort von der Gleichheit der Chancen blieb lange eine Phrase, hinter der sich extreme Ungleichheit tarnte.
Aus dem liberalen Leistungs- und Wettbewerbsbegriff folgt unabweisbar die Gleichheit oder zumindest starke Annäherung der Startchancen für alle. Die
Liberalen haben im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versäumt, sich immer wieder darum zu bemühen. Sie duldeten eine Verfestigung der
sozialen Verhältnisse, die den theoretischen und juristischen Freiheitsbegriff zur Waffe in den Händen einer begrenzten Schicht in der Abwehr der Ansprüche breiter Schichten pervertierte.
Die mangelhafte soziale Komponente des Liberalismus hat Friedrich Naumann bereits vor dem Ersten Weltkrieg treffend gegeißelt. Merkwürdigerweise blieben
auch die, die Naumann später verehrten, und sich auf ihn beriefen, ziemlich unfähig, Liberalismus aus derer besitzbürgerlichen Erstarrung zu befreien. Der
ständige Schwund der organisierten liberalen Kräfte, der latente Stimmenrück- gang vieler liberaler Parteien, hat seine tiefere Ursache in dieser besitzbürgerli-
chen Erstarrung des Liberalismus. Der Umschlag in den Konservatismus wurde zu lange geduldet. Inzwischen hat Befreiung des Liberalismus und seiner Re-
orientierung auf die gesellschaftlichen Notwendigkeiten des 20. und 21. Jahrhun- derts durch jüngere Kräfte stattgefunden. An dem Abtragen der Erblast und den früheren Irrungen ist allerdings noch zu arbeiten.
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