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Stand: 19. Juni 2001, 8:00

Überlebt die Demokratie im Wohlfahrtsstaat?

I. Etwas Geschichte, die Befindlichkeit. Dann kam der Ruck.

Spätestens seit der Einweihung des Adlon im April 1997 wissen wir, ausgedrückt durch 5000 gut gemeinte „Ruck-Worte“ umfassend, dass und wie wir mit uns sehr, sehr unzufrieden sind. Dabei ist das Potenzial der Fähigkeiten des „Standortes“ unbestritten, das „politische Leben“, süddeutsch ausgedrückt, bis heute dennoch eher Krampf.

Demokratie und Wohlfahrts“staat“, tragende politische Konzepte unserer Zeit, geraten in zunehmend heftigen Widerspruch. Es gibt zu wenig Konsens über die Gestalt von Demokratie und Wohlfahrts“staat“. Ende einer Illusion? Wird soziale Gerechtigkeit, das leibhaftige konzeptionelle Chamäleon, als Fata Morgana weiter bestehen? Derweil haben Sprechblasen Hochkonjunktur, während die Ritualisierung der Demokratie fortschreitet. Bald alle Bürger spüren dies, und es stabilisiert sich die informelle, durch obrigkeitsstaatliche Mentalität verstärkte, äußerst schädliche Koalition zwischen Politik-Beruf und Politik-Verdruss; die einen machen was sie wollen, die anderen wollen Ruhe - letztlich vor sich selbst.

Angesichts von Fehlfunktionen des politischen Subsystems unserer Gesellschaft („Politik-Versagen“?) wird im folgenden dargelegt, welche geistige Unterfütterung politische Prozessbedingungen so verändert, dass Fortschritt statt Rückschritt bei der Umsetzung etwa der Ideale der Aufklärung künftig eintritt.

Das Problem: Die Praxis von Wohlfahrt, Arbeitsteilung, sozialer Werte und Demokratie erzeugen unter den Bedingungen des heutiges Politik-Betriebes systemsprengende, bisher nicht gedämpfte Rückkopplungen.

Wohlfahrt

Ob der Zustand des Wohlfahrts“staates“ gegeben ist, wird jeder Einzelne subjektiv entscheiden. Vielleicht empfinden z.B. die Ureinwohner am Amazonas ihre Gesellschaft als Wohlfahrts“staat“. Wohlfahrt ist naheliegend wünschenswert, jedoch als Empfindung, als Gefühl, als Befindlichkeit nie vollkommen. Deswegen streben Menschen stets nach mehr Wohlstand. Es gibt eben kein Maß für ausreichenden Soll-Wohlstand.

Arbeitsteilung und Einkommensverteilung

Menschliche Gesellschaften organisieren sich bekanntlich durch Arbeitsteilung. Unternehmer, Arbeitnehmer, Ingenieur, Kaufmann, Protokollbeamter, Präsident, Pädagoge, Parlamentarier, Wahrsager, Professor, Bauer und Bäcker sind Elemente eines Organismus. Fiele eine „Funktion“ dauerhaft aus, wäre der Organismus nicht lebensfähig. So abhängig sind „Funktionen“ voneinander.

Ohne die Funktionen der Um-Gesellschaft gäbe es die einzelnen Ergebnisse menschlicher Tätigkeit (Arbeit) folglich entweder anders, zu einem anderen Zeitpunkt oder gar nicht. Umgekehrt gilt trivialerweise: Jedes Ergebnis von Arbeit beinhaltet implizit eine Vorleistung, einen Beitrag der Um-Gesellschaft. Dieser Beitrag ist eine gesellschaftliche Komponente der persönlichen Arbeit bzw. Leistung. Es eignet sich also gesellschaftliche Komponenten, kollektive Güter, an, wer (unabhängig von Preisen) über das Ergebnis seiner Arbeit „verfügt“. Jedes tätige Mitglied der Gesellschaft eignet sich quasi unvermeidbar solche Güter an.

Beispiele: Nutzen öffentlicher Verkehrseinrichtungen, des Wissens einer Bibliothek oder die Einvernahme der Ausbildung jeweils im Dienste (stets künftiger) Erwerbstätigkeit; ferner das Geschäft in fremden Land mit Rückendeckung der Botschaft; der Abschluss eines Kaufvertrages nach den gesetzlichen Bestimmungen; oder: der Einsatz einer Werkzeugmaschine mit umfangreichem technologischem Stammbaum; schließlich: das Betreiben eines neuen Geschäftes an traditionsreich-bekanntem Standort.

Aneignung ist zwar geregelt aber in keiner Gesellschaft ausdiskutiert. Hinter dem Schleier der natürlichen Mehrdeutigkeit zwischenmenschlicher Kommunikation finden sogar innerhalb transparenter und demokratisch verfasster Gruppen weitere, verstohlene, nicht verabredete, überraschende Aneignungen (Privilegien, Sonderrechte aller Art, Externalisierung von Kosten) statt. Auch diese Praxis ist menschlicher Gesellschaft inhärent.

Die resultierende Ungleichheit, bewirkt ein Misstrauen der Menschen untereinander, ob Einzelne oder Gruppen die Grenze der unentgeltlichen, nicht rechenbaren Aneignung knapper Güter unzulässig überschreiten. Dieses Misstrauen autolegitimiert und wird so politisch wirksam.

Unerfüllte Ansprüche erzeugen Spannungen und lösen, wie bekannt, Auseinandersetzungen aller Art aus: Kriege, Aufstände, Verteilungskämpfe. Historisch nachgewiesen ist etwa, wie im Dienste von (Verteilungs-)Gerechtigkeit gewisse Aspekte des voranstehend dargestellten, verallgemeinerten Befundes die Errichtung sozialistischer Regime und Gesellschaften gefördert haben. Löst etwa Liberalismus diese Probleme heute? Die Antwort erscheint einfach, denn der Sozialismus ist gescheitert, u.a. weil Gesetzmäßigkeiten komplexer Arbeitsteilung amtlich negiert wurden. Können wir uns entspannt zurücklehnen, weil wir zum Beginn des Jahrtausends vom inner-liberalen Gespräch träumen? Zuvor ist festzuhalten: Jede Gesellschaft benötigt

Soziale Werte.

Sanktionen sind ein wichtiges Funktionsprinzip der Gesellschaft. Schuld bestimmt negative Sanktion. Wie stark darf aber benachteiligt sein, wer bezogen auf Geld, Güter oder persönliche Fähigkeiten schuldlos unvermögend ist? Gefühl und Gewissen regeln vieles; Starke stützen Schwache; Handlungen mit der Wirkung sozialer Ausgrenzung sind untersagt; soziale Integration ist geboten. Soweit dem zu Folge nötig, wird Benachteiligung durch Einrichten finanziell materialisierter Rechtsansprüche kompensiert. Nach herrschender Lehre wird so der Ausgleich zwischen Bürgern mit starken und solchen mit schwachen Schultern hergestellt. Diese sind die wesentlichen Normen der heutigen von Statistiken und Kalkülen gestützten Gesellschafts-Kultur. Greift Maßlosigkeit der Beteiligten nicht um sich, wäre das soweit in Ordnung.

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Praxis