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Stand: 10. Juli 2001, 14:00

Liberales Staatsverständnis
(gekürzte Fassung eines Aufsatzes in liberal, Heft 2, Mai 1997, S. 46ff)

Ein Kommentator meinte nach dem Parteitag der FDP am Abend des 9. Juni 1996 „Freiburg“ sei tot. Genau das ist nicht der Fall, denn Freiburg hat den Libe- ralismus geprägt. In gleicher Weise greift Liberalismus auf seine Wurzeln in der europäischen Geistesgeschichte zurück. Anders könnte Liberalismus heute nicht begriffen und vermittelt werden.

Liberale haben den autoritären Staat des 18. Jahrhunderts überwunden. Liberale gehen nun daran, auch den des 20. Jahrhunderts einzumotten. Dies ist dringend nötig, denn die Debatten seit Anfang 1996 scheinen einen Mainstream der öffent- lichen Meinung anzuzeigen, der sogar weiteres Wachstum des Staates, Bevor- mundung erteilend und Freiheit raubend, verlangt. Der „Rückzug des Staates“ ist ein komplexes politisches Projekt. Die herrschende Staatsrechtslehre ist om- nipräsent, liefert die Rechtfertigung für „politische“ Unbeweglichkeit und nährt die Hoffnung auf bequem-sorgenfreies Leben zu vieler Zeitgenossen.

Bezogen auf die Notwendigkeiten der Zukunft hat sich bereits seit 1985 ein Wan- del im Liberalen Programm vollzogen, der mit Verabschiedung des Wiesbadener Programms 1997 als liberaler Urknall Geschichte wurde. Entstanden ist zu- nächst eine programmatische Ursuppe. Diese Ursuppe ist der Protoliberalismus für das 21. Jahrhundert.

Politische Programme kritisch auf geschichtliche Erfahrung zu gründen ist stets vernünftig. Zum Thema „Staat“ steht im Wiesbadener Programm beispielsweise noch:

  1. “die Bürger gewähren dem Staat Einschränkungen ihrer Freiheit”
  2. Recht zu setzen und durchzusetzen ist Aufgabe des Staates”
  3. “Wir wollen einen Staat, der nicht Partei ergreift. Deswegen brauchen wir eine neue Arbeitsteilung zwischen Bürger und Staat”
  4. “Die liberalen Grundrechte sind Abwehrrechte der Bürger gegenüber dem Staat”
  5. “Was der Bürger in eigener Verantwortung entscheiden kann, muss er auch entscheiden dürfen”
  6. “Wo der Bürger staatliche Entscheidungen braucht (werden) diese ... nah am Bürger ... getroffen”
  7. “Die Parteien sollen zwischen Gesellschaft und Staat vermitteln”

Halt: Wer ist der Souverän? Es gibt zwischen Gesellschaft und Staat nichts zu „vermitteln“. Die Bürger bestimmen in der repräsentativen Demokratie über ihre Abgeordneten in den Parlamenten die Aufgaben von Justiz, Verwaltung und Regierung. Punkt.

Konservative werden sich beruhigt zurücklehnen, wenn sie die in der Aufzäh- lung wiedergegebenen Sätze lesen. Aber für Liberale sind die Maßstäbe anders. Es ist politische Pflicht, Worte nicht zu verdrängen, sondern mit Sensibilität von Sprache auf Denken und damit auf voraussichtliches Handeln zu schließen. Die Lippen haben in Karlsruhe und Wiesbaden beherzt das Entstaatlichung, gefor- dert. Der Gedanke, die Lippen hätten das Zurückdrängen des Staates aus dem sicheren Hort bewährter Staatsgläubigkeit so pointiert fordern können, erzeugt geistige Gänsehaut und helle liberale Aufregung. „Was willst Du mit dem Dolche ? Sprich ...“

Zur Klarheit: Ein Staat besteht, wenn für bewohntes Gebiet die äußere Vertretung und die innere Schlichtung von legitimierter, zur Gewalt verpflichteten und fähigen „Verwaltung“ wahrgenommen wird. Die konstituierenden Elemente des Staates sind: Bürger, Gebiet, Institutionen, Gewaltmonopol. Die Institutionen gliedern sich in eine Vielzahl spezialisierter Unter-Institutionen. Wir unterscheiden beispiels- weise: Parlamente, Gerichte und Regierungen. Die kritische Frage an den rationalen Verstand lautet nun: Kann der so definierte Staat handeln? Sind die zahllosen Aussagen (Sätze) logisch richtig wenn in ihnen der Begriff „Staat“ mit Aktionsverben (gewähren, entscheiden, sorgen, lösen, befriedigen, genehmigen) verknüpft wird? Historisch war es sicherlich sinnvoll den absoluten Fürsten die Abgabe von „Macht“ durch die in Worte gekleidete Suggestion zu erleichtern, letztlich würden ihre Vorrechte in der künftigen Republik nicht entscheidend ge- schmälert. Aber die Aufgabe dieser Tradition ist, nachdem die Entwicklung weiter gegangen ist, nun zwingend geboten.

Die weiter oben zitierten Aussagen sind formal eine ungeeignete politische Spra- che, weil der Aussagende entweder:

  • Unantastbarkeit der Institutionen, hinter der interessierte Akteure sich ver- stecken, also Obrigkeitsstaat, suggeriert
  • niemanden als Handelnden bezeichnen will, persönliche Verantwortung also nirwanisiert (Sozialisten)
  • die Aussage zur Verantwortung vermeiden will (Konservative)
  • sich selbst meint (absoluter Herrscher)
  • möglicherweise nicht weiß, was er aussagt oder schlimmstenfalls falsch (beliebig) verstanden wird

Formale Probleme gehen nahtlos in inhaltlich von Liberalen stets bekämpfte, heute unhaltbare Positionen, über.

  • Aussagen über „Staat“ in Sätzen mit Aktionsverben (geben, nehmen, ver- ordnen, schützen, versorgen, vorsorgen) verknüpft, sind beliebig interpre- tierbare, unverbindliche Formelsprache. Noch ungünstiger ist es, wenn, wie zu befürchten ist, so in der operativen Politik gedacht und gehandelt wird. Wenige werden in der Lage sein, „Soll“ und „Ist“ zu vergleichen. Müssen wir uns über Politikverdrossenheit wundern?
  • Ironisch: Hat uns das „aktive Handeln des Staates“ von den bekannten Problemen verschont?
  • Insbesondere die Fülle ähnlicher Aussagen und die reichliche Verwendung insofern belasteter Begriffe könnten den Glauben an die Absicht erschüt- tern, das Staats-Unwesen tatsächlich einschränken zu wollen.
  • Die zitierten und weitere Aussagen sind geeignet, den Keil zwischen „Staat“ und Bürger weiter einzutreiben. Dann wäre in der Tat eine Vermitt- lung beispielsweise durch Parteien Beschäftigung für echte Funktionäre sichernd unabwendbar
  • Im Wiesbadener Programm der FDP wird die ungenügende Bereitschaft zur ehrenamtlichen Teilnahme der Bürger (Abgeordnete, Funktionäre und viele Beamte sind beruflich Politiker) am politischen Leben beklagt, da der transzendente Staat die Dinge richte. Besonders Liberale erkennen, dass die vergiftende Anspruchsmentalität auch von dem Empfinden genährt wird, dass der Untertan „den Staat“, in dem er wohlwollend „darf“ (siehe Zitat Nr. 5), nicht als seine Sache begreift. Noch schlimmer: Der Untertan ist gegen die Tatsache, dass die Institutionen des Staates seine eigene Sache sind, psychologisch immunisiert. Die Konsequenz: „Wir (Ich !) fordere(n), dass... (andere etwas tun)“. Das Schwarze Loch des galakti- schen Politikbetriebes vernichtet individuelle Verantwortung für das Ganze ...

Statt dessen benötigen wir Vorrang für den Gedanken, dass die Bürger untereinander einen Gesellschaftsvertrag über die Regeln ihres Zusam- menlebens geschlossen haben.

Die FDP-Parteitage von Karlsruhe/Wiesbaden (1996/97) erzeugten einen liberalen Urknall, weil individuelle Freiheit und individuelle Verantwortung überzeugend zum neuen Gesellschaftsvertrag mit „weniger Staat“ kondensierten. Wenn Liberale einen anderen, Gesellschaftsvertrag entwickeln, dann muss das Staatsverständ- nis genetisch und schlüssig dem folgen und glaubhaft, unmissverständlich ent- sprechend ausgeführt werden werden. Es ergeben statt der Zitate folgende libera- le Prinzipien:

  1. Bürger gewähren sich gegenseitig Einschränkung ihrer Freiheit
  2. Recht zu setzen und Mittel zu seiner Durchsetzung zu genehmigen ist Aufgabe der Parlamente
  3. Regierungen und Verwaltungen dürfen nicht Partei ergreifen. Deswegen müssen die Funktionen der staatlichen Institutionen eingeschränkt und neu definiert werden.
  4. Liberale Grundrechte sind Abwehrrechte der Bürger gegenüber Mitbür- gern.
  5. Was der Bürger in eigener Verantwortung entscheiden will, ist ihm zu überlassen.
  6. Die Parlamente legen in Verfassungen, Satzungen oder Gesetzen die Regeln des Zusammenlebens in der Gesellschaft fest.
  7. Parteien sind die Vorstufe der Parlamente. Sie kanalisieren und vermitteln die Meinung der Bürger. In einer Kultur der Überzeugungsarbeit ist für verfassungswidrige Fraktions- und andere Verhaltenszwänge kein Raum.

Nachsatz Nr. 1: Die gesellschaftliche Entwicklung wird kurzfristig von der Anwen- dung des Gesellschaftsvertrag-Gedankens sanft genug beeinflusst. Die Befürwor- ter des Wohlfahrts- und Obrigkeitsstaates verteidigen nämlich die psychologi- sche und agitatorische Plattform für zahllose und beliebig umfangreiche Forde- rungen zur Beseitigung „unzumutbarer sozialer Härten“ so verbissen, dass Kon- tinuität und behutsamen Evolution unverzichtbar sind. Wären die Verteidiger des Wohlfahrts- und Obrigkeitsstaates erfolgreich, mündete die gesellschaftliche Entwicklung unvermeidbar in der Krise. Führen die Bürger ihr Zusammenleben dagegen auf der Grundlage eines Gesellschaftsvertrages, ergibt sich schon we- gen der eingebauten Selbststeuerung die signifikant bessere Perspektive.

Nachsatz Nr. 2: Das Vertrags-Prinzip entfaltet insbesondere angesichts des hypertrophen Wohlfahrtsstaates große gedankliche Kraft in der Gesellschaft. Es aktiviert nicht nur die liberalen Einzelkämpfer, sondern über das Angebot zu mehr Partizipation und Abbau der Untertanenmentalität auch weitere große Teile der Gesellschaft. Das liberale Programm baut damit in der Gesellschaft Einsichten auf, die Reformen möglich machen. Wichtig hierzu sind saubere Gedankenfüh- rung und Verankerung in der europäischen Geistesgeschichte.

Nachsatz Nr. 3: Das Programm der Liberalen bleibt langfristig profiliert, weil in unserer Demokratie auch künftig Sozialpolitiker wieder und wieder Wohltaten verteilen werden, die die Aufgaben der Verwaltung aufblähen, Freiheit und Verant- wortung daher „verstaatlichen“. Mit der Anwendung des gedanklichen Instrumen- tes des Gesellschaftsvertrages werden liberale Strategie und liberale Sozialtech- nik reaktiviert, die künftige Gefälligkeitspolitik präventiv eindämmen.

Nachsatz Nr. 4: Nach dem Urknall von Karlsruhe und Wiesbaden ist es erforder- lich die programmatische Ursuppe zu strukturieren und philosophisch zu ordnen. Weitergehende Entwicklung ist nötig, denn da liberales Ur-Anliegen endlich im Klartext auf der Tagesordnung steht, ist sicherzustellen, dass der point of no return möglichst bald erreicht wird.

Die gereizten Reaktionen der demokratischen Wettbewerber seit 1996 ermutigen.

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