Stand: 25. April 2003, 8:00 / 29.04.02
Die Tragödie am Gutenberg Gymnasium
Kurzfassung (nachträglich zum Jahrestag)
25. April 2003: Erschüttert waren Verwandte und Freunde der Getöteten am Erfurter Gutenberg Gymnasium. In Deutschland war die Wahlkampagne angelaufen. Die
Erschüt- terung griff, mit gewisser Abscheu anzusehen, auf “die Politik” über. Das bedrückende Ereignis veranlasste das Liberale Tagebuch zu einer Reihe scharf formulierter Fragen (gedankliche Gänsehaut zu erzeugen ist keine Körperverletzung), die weiter unten nachzulesen sind. Was ist seit dem geschehen? Nichts. Doch, die Pseudomaßnahme: “Waffen nur für Erwachsene” und - selbstverständlich - mehr Kontrolle. Also nichts, ähnlich PISA. Waren
“wir” also “pflichterschüttert”, der Wahlkampagne 2002 geschuldet? Die Frage ob die Wahrscheinlichkeit des Eintretens ähnlicher Ereignisse gefallen ist, sollten wir lieber nicht stellen. Wir
sind zur Tagesordnung übergegangen: Wie ist Wunschdenken zu gestalten um den traditionellen Wohlstand (aus der Steckdose) zu erhalten?
Viel lernen? Ja. Viel leisten? Ja. Aber eben diskriminierungsfrei. Wider sozialistischer Gleichmacherei. Nur das ist sozial.
Erfurt, Thüringen, Deutschland nach dem 26. April 2002: Die Diskussion wird, atemberaubend, als Metawahlkampf geführt. Akteure, angespannt bis in die letzte Faser, “bloß
keinen Fehler machen”, es könnte am 22. September 2002 Stimmen kosten, stehen unter Druck wie selten. Was geht in den Menschen vor, die nach der Tragödie um Meinungsführerschaft für pragmatische (zum Vertu- schen
ideologiebestimmter) Lösungen ringen? Abstoßend der Versuch, auf in tiefer Seele eingefurchte Vorurteile zu setzen. Fragen an die vielen offiziell Ergriffenen und Trauernden werden (besser) nicht gestellt. Es sieht so
aus, dass in langjährig CDU/CSU geführten Bundesländern derartige Tragödien etwas häufiger vorkommen.
Erfreulich, dass Gesetzesverschärfer mit dem Erlangen der konzeptionellen Flughoheit zumindest Schwierigkeit haben. Bedauerlich, dass der Kurswert von sozialistischen und
konservativen Pharisäern so zugenommen hat. Bliebe die CDU/CSU 2003ff Opposition, wäre folgender Ausruf überflüssig: Das Führungs- personal (Sicherheit, Kultur und Bildung) der CDU/CSU ist eine Katastrophe; die haben
nicht viel gelernt, als ob wir nicht bereits 4 Jahre Sozialismus hinter uns hätten. ___________________________________________________________________
Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Amokläufen wie dem des Gutenberg Gymnasiums ist, wie bereits anlässlich der Verbrechen in Zusammenhang mit den Geschehnissen von 11. September 2001 dargelegt, größer als null. Ges- tern, heute, leider auch künftig. Überlegenswert allerdings ist, ob es Vorkehrun- gen, Maßnahmen, Verabredungen gibt, die dazu beitragen die Wahrscheinlich- keit des Eintretens solcher Tragödien zu vermindern.
Ein Mensch, ein Mitbürger, ein Kind ist/hat <Partizip eines Verbs>. Auf derar- tiges Verhalten sind wir nicht eingestellt, damit rechnen wir nicht alltäglich, es ist
logisch betrachtet, ohne Sinn oder Zweck; aber es passiert - zu unser aller Ent- setzen. Dieser Mensch erkrankte - denn er lebt nicht mehr - akut oder chronisch und fasste unter diesen Umständen Beschlüsse, handelte
entsprechend. Die Toten hatten nahezu keine Chance zu überleben.
Der Mensch verzweifelte in einer aus seiner Sicht aussichtslosen Lage. Wollen wir, dass Mitmenschen an ihrer Lage verzweifeln? Nicht; aber es passiert - leider. Sind wir
anderen die lautlosen Verursacher? Hätte jemand bei Zeiten etwas mer- ken sollen? Die beiden letzten Fragen mit “Ja” beantwortet, zeigen den Weg, dass solche Tragödien seltener geschehen. Aber ganz sicher
sind wir nicht. We- der diagnostisch noch bezüglich der Maßnahmen zur Abwehr.
Im Dienste präziser Gedankenführung: Angenommen, die Tragödie wurde da- durch ausgelöst, dass der junge Mitmensch von “seiner” Schule verwiesen, sich dadurch
gedemütigt fühlte; möglicherweise bestand eine Vorschädigung, eine soziale Insuffizienz; vermutlich hat der letzte Tropf ein Überlaufen ausgelöst.
Die folgenden Fragen sind gedankliches TNT an herrschender Meinung, d.h., an Vorstellungen die bei vielen Zeitgenossen, insbesondere Konservativen und Sozialisten, einen festen Platz
haben. Aber auch wir Liberalen müssen uns - immer mal wieder - “hinter den Ohren kratzen”. Es darf nicht zulässig sein, wie nunmehr gängig, die Katze, etwa im Kostüm eines Pharisäers, weiter um den heißen
Brei herum laufen zu lassen. Also:
- Rhetorisch: Ist ein Mensch ohne Abitur weniger wert als der Mensch “mit Abitur”? Sind Menschen oder Abitur abzuschaffen?
Wie kann Wertschät- zung von jedermann sicher, wirkungsvoll, effektiv vermittelt werden?
- Kann es moralisch, logisch oder rein sachlich richtig sein, Menschen so Schwarz/Weiß zu klassifizieren?
- Ist es mit der Würde des Menschen zu vereinbaren, Einzelne ex cathedra substanziell zu
deklassieren/diskriminieren/auszusondern/abzustempeln?
- Warum hat die KMK nicht längst ein Abitur mit der zulässigen Note “6” eingeführt?
- Warum hat ein begabter, guter Schütze so “krass in der Schule” versagt?
- Könnte es sein, dass Lehrer zu Hauf Probleme sehen, aber längst resig- niert haben, weil einerseits zu viele die Eltern nicht
mitmachen, anderer- seits die Kultusbürokratie (u.a. ihre) Laufbahnen verwaltet und in der ver- bleibenden Zeit mit dem Erlass von Vorschriften Verantwortung ver- schiebt? Haben zu viele Lehrer auf Durchzug geschaltet?
- Sind Lehrer fachlich so überfordert, dass der Griff zur gesetzlichen Diszi- plinierungskeule die willkommene Methode ist, um etwa
“unzumutbarem” oder nur lästigem Leistungsdruck auszuweichen?
- Ist Gewalt im Schulalltag überhaupt eine Thema? Seit wann?
- Welche Faktoren beeinflussen die Friedfertigkeit des Schulbetriebes? Lage? Soziale Herkunft von Schülern und Lehrern? Anteil
“sog.” Auslän- der? Größe der Schulen?
- Könnte es sein, dass sinnloser Lernstoff lustlos vorgetragen Unmut katalysiert und heftige Abwehr (auto-)legitimiert?
- Haben rigorose Gesetze/Verordnungen den Handelnden ihre Aufgabe, gar ihre Entscheidungen erleichtert, eventuell kausal
Gedankenlosigkeit “ge- fördert”? Kommt das legendäre “Alles-Nach-Recht-Und-Ordnung”, das wir aus dem Flugticket-Problem der NRW-SPD kennen ins Gedächtnis?
- Sind also Gesetze/Verordnungen überhaupt ausreichende Legitimation für jedwedes Handeln/Verhalten?
- Was weiß die jeweilige Führung über den “Zustand” an den Schulen, über die Einstellung der Lehrerschaft? Wie oft treffen
die Disziplinarvorgesetz- ten die ihnen “anvertrauten”, die von ihnen zu führenden qualifizierten Mit- arbeiter? Woher wissen die Verantwortlichen so genau, dass der Lehrkör- per die gestellten Aufgaben
materiell, d.h., etwa so wie dies den Wählern vermittelt wird, real erfüllen?
- Gibt es in der Gesellschaft Einzelne, die mehr Chancen haben als Andere Gesetze zu interpretieren, d.h., gewünschtes Verhalten rein
rechtlich doch zu ermöglichen? Welche Gefühle entwickeln sich bei Einzelnen, wenn auch nur der Eindruck sich verfestigt, selbst derartige Chancen nicht zu haben?
- Was wäre zu tun, wenn ein Gefühl relativer Machtlosigkeit (relativ etwa mit dem breit kommentierten Geschehen vom 22. März 2002 im
Bundesrat) Gegenstand breiter Diskussion unter Machtlosen und/oder Chancenlosen wäre? Werden politische Lüge und Korruption als Gewalttätigkeit von zu vielen Menschen wahrgenommen?
- Was empfinden Menschen, die “den Gesellschaftsvertrag” (also Normen/ Verfassung/Gesetze/Verordnungen/Erlasse, usw.), und
sei es nur verhal- tensökonomisch bedingt, nicht verstehen? Müssen die Menschen oder muss der Gesellschaftsvertrag anders sein?
- Was hat die Handlung ein Arzttestat (was ist überhaupt eine Urkunde?) zu fälschen mit der Befähigung “zum Abitur” zu tun?
Dürfen zu lebenslanger Haft Verurteilte künftig keine Prüfungen ablegen, nach herkömmlichen Maßstäben zum Lernen also nicht motiviert werden? Ist etwa die Strafe Führerscheinentzug im Falle von Ladendiebstahl
angemessen? Soll der Eigentümer des Geschäftes befugt sein, das begehrte Dokument einzu- behalten?
- Könnte das “Handeln des allmächtigen Staates” bzw. die Handlung “mit Rückendeckung des allmächtigen Staates”
dem Einzelnen seine Machtlo- sigkeit in besonders krasser Weise veranschaulicht haben?
- Sind in Schulen, Massenorganisation wie viele, geeignete Mechanismen zum Abbau von Aggression, zur Lösung von Konflikten vorhanden?
Könn- ten wie in der Wirtschaft von den Gewerkschaften erfolgreich praktizierte Mechanismen, entsprechend adaptiert, vorgesehen werden?
- Ist es denkbar weitere Teile sozialer Steuerung und sozialer Sanktion von der staatlichen in die Sphäre privat gebildeter Gruppen
oder Organisatio- nen, die der Einzelne völlig frei wählen und wechseln kann zu verlagern?
- Ist möglicherweise das Wunschbild familiärer Existenz erneut zu überar- beiten?
- Wer trägt Verantwortung in der arbeitsteiligen Gesellschaft? Oder muss versucht werden weiter fortschreitende
Arbeitsteilung zu vermeiden, etwa um kollektiv-reflexive Verantwortungslosigkeit möglichst einzudäm- men? Ist Dezentralisation als Organisationsprinzip entgegen politischer Praxis nicht doch angezeigt?
- Wie weit klaffen die theoretische Unterstellung
und gesellschaftli- che Praxis auseinander?
Auf diese Fragen gibt es liberale Antworten. In Deutschland, in Europa, ja welt- weit. Aber: An keinem Wesen wird die Welt genesen; die Antworten bleiben da- her ungeschrieben. Gesellschaftsvertrag (Rechtsordnung), auch Staat, “benöti-
gen” wir mehr denn je. Fragt sich nur welche.
In der zunehmend volkreichen Welt sind Regulierung, Bevormundung, Gestal- tung des Lebens, Einengung von Freiräumen der wichtigste Trend menschlicher Organisation geworden. All
dies wird von Menschen erfunden und von Menschen betrieben. “Wir” wissen offenbar nicht “was” wir tun. Und das Schlimme ist, dass die in dem Sinn agierenden Mitmenschen das selbst gar nicht
bemerkt haben.
So wie die FDP 1971 das Verursacherprinzip im Umweltschutz beschlossen hat und seit Jahren gegen Bevormundung und Regulierung eintritt, so ist ergänzend zu formulieren:
“Wir” müssen mehr für sozialen Umweltschutz tun. Gewiss, Verursacher sind schwerer zu identifizieren als in der leblosen Natur. Zumindest im ersten Durchgang würde die konsumgüterbezogene Produktivität gesamtgesellschaftlich sinken; insofern ist die Analogie zum klassischem Umweltschutz gegeben. Unsere selbsternannten und besserwissenden Sozialtechniker hätten ein schier grenzenloses Betätigungsfeld; es liegen die Chancen auf der Straße. Warum haben sie diese Chancen nicht längst ergriffen?
Ein Letztes: Dieser Beitrag hätte schon vor vielen Jahren geschrieben werden müssen. Wer meint, es sei bis heute schwierig gewesen sich Gehör zu verschaf- fen , muss sich
schämen, die Anstrengung unterlassen zu haben.
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