Stand: 12. Juli 2006, 10:00 FDP-Generalsekretär hält Koalition für gescheitert Folglich plädiert Niebel für Neuwahlen
Der Text im Folgenden ist das Interview mit dem DLF am 7. Juli 2006 um 7:15, dass gekonnt Jürgen Liminski führte.
Niebel ist es gelungen,
über die Fragen hinaus zusammenhängend und mit wenigen Worten von der Problemsicht bis zu den Lösungen der FDP eine nachvollziehbare und verständliche Gesamtschau – es sei metaphorisch ausgedrückt
– zu komponieren, die kaum zu übertreffen ist. Das ist das Resultat jahrelanger Arbeit von Dirk Niebel persönlich, so wie Resultat des Gemeinschaftsgeistes von Zehntausenden Liberaler.
Vom
Interview erhalten ist die einleitende Analyse von Liminski. Die ursprüngliche Absicht, die Fragen vollständig zu streichen, war nicht realisierbar. Wo unerlässlich sind daher die Fragen, die als
Zwischenrufe bei einer Rede gelesen werden können, d.h., verkürzt erhalten.
Das komplette Interview ist in dem reichhaltigen Internet-Archiv des DLF nachzulesen. Obwohl die Nachrichtenrekation des
DLF immer wieder Anlass zum Meckern gibt, ist zu hoffen, dass das Archiv des DLF (enthält übrigens auch die Nachrichtensendungen) lange erhalten und lange weiter ausgebaut wird; denn dadurch wird das
Archiv als Produkt journalistischer Arbeit immer wertvoller. Kompliment an die Mitbürger, die beim DLF wirken.
Hier also Liminski und Niebel:
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Jürgen Liminski:
Nur noch 24 Prozent der Deutschen sind mit der Arbeit der großen Koalition
zufrieden. Innerhalb der großen Koalition dürften es kaum mehr sein, wenn man die Lautstärke der Kritik aus der SPD an Kanzlerin Merkel als Maßstab nimmt.
Das Koalitionsklima ist gereizt, die Angriffe werden persönlicher. Man wirft der Kanzlerin Führungsschwäche vor, weswegen es zu keiner wirklichen Reform des
Gesundheitswesens gekommen sei, sondern de facto nur zu einer Beitragserhöhung. Immerhin, der Haushalt 2007 wird als verfassungskonform verabschiedet und die Arbeitslosenzahlen sinken etwas.
Der Sprecher des Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, meinte dieser Tage, das Problem dieser großen Koalition ist immer mehr die Kanzlerin. Sehen Sie das auch so?
Dirk Niebel:
Nein, eigentlich nicht. Die Kanzlerin wird zwar mehr und mehr beschädigt, aber das Prinzip ist: Haltet den Dieb! Ich meine, immerhin ist es ja auch die SPD, die
ihre Vorsitzende in letzter Zeit gewechselt hat wie andere Leute ihre Unterwäsche. Also das Grundproblem dieser großen Koalition, dieser vermeintlich großen Koalition, ist nicht eine Persönlichkeit auf der einen oder
anderen Seite, sondern das Grundproblem ist, dass sie beide auf dem allerkleinsten gemeinsamen Nenner nur versuchen voranzukommen. Eine große
Koalition darf nicht so heißen, nur weil sie viele Mandate hat, sondern sie muss zu einer großen Koalition werden, indem sie die Probleme des Landes löst. Und
genau das ist nicht zu sehen. Und hier schieben die beiden sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Erst hat Herr Müntefering schon in den
Koalitionsverhandlungen eine Richtlinienkompetenz der Kanzlerin verneint, jetzt fordert die SPD sie ein. Die Herrschaften sollten sich mal einig werden, was sie denn nun wollen.
Es steht für Deutschland zu befürchten, dass die das machen wie Boxer in der zwölften Runde, die allein nicht mehr stehen können und sich gegenseitig auf
den Beinen halten. Aber was wir dort erleben an Zerrüttungsprozess, das erlebt man normalerweise eigentlich erst kurz vor Ende einer Regierungskoalition, wenn
die Partner auseinander gehen. Jetzt können wir für Deutschland, die Bürger, nur hoffen, dass das Trennungsjahr nicht zu lange wird.
Die SPD müsste dann sich auf die linke Mehrheit, die strukturell im Bundestag
ist, natürlich verlassen. Ein konstruktives Misstrauensvotum würde ja bedeuten, dass man eine Persönlichkeit vorzeigen kann, die kanzlertauglich ist. Die sehe ich in der gesamten SPD im Deutschen Bundestag nicht.
Ich bin der festen Überzeugung, Deutschland hat eine bessere Regierung verdient als die jetzige. Nach meinem Kenntnisstand - das müsste man aber noch mal
nachgucken - kann beim konstruktiven Misstrauensvotum ein Kanzler aus der Mitte des Hauses gewählt werden, Herr Beck ist nicht Mitglied des Deutschen
Bundestages. Ich sehe auch nicht, dass diese Situation sich stellt. Beide kleben an der Macht. Die Legislaturperiode ist noch nicht mal anderthalb Jahre gelaufen.
Von daher können Sie davon ausgehen, dass beide Seiten versuchen werden, so lange wie möglich an der Macht zu bleiben, dass dieser Zerrüttungsprozess zu
Lasten der Bürgerinnen und Bürger weiter vonstatten geht. Das ist bitter, insbesondere weil man weiß, dass es besser geht in Deutschland. Aber im
Augenblick ist sowohl die Union als auch die SPD zu schwach, um sich den Wählerinnen und Wählern zu stellen. Beide haben Angst vor dem Wähler, deswegen werden sie weiterwursteln.
Liminski: Verlieren wir Zeit?
Das wäre das Beste, wenn es nur der Zeitverlust wäre. Ich befürchte, dass die Probleme in unserem Land so groß sind, dass wir uns auch einen Zeitverlust
nicht leisten können. Es ist zwingend notwendig, Deutschland für die kommenden Jahrzehnte neu aufzustellen. Wir haben in den sozialen Sicherungssystemen, am Arbeitsmarkt, im Steuersystem eine Situation, die
dazu führt, dass wir mehr und mehr im Wettbewerb mit anderen Nationen nach hinten fallen. Das haben wir erstens nicht verdient, und zweitens können wir uns
das nicht leisten. Und daher wäre es das Vernünftigste, wenn man eine andere Regierungsmehrheit hätte, aber das ist in der jetzigen Situation halt nicht absehbar.
Liminski: Neuwahlen?
Ich gehe davon aus, das wäre das Vernünftigste, das Ehrlichste. Die Bürgerinnen und Bürgern haben dieser vermeintlich großen Koalition ein gewisses Maß an
Vertrauensvorschuss entgegengebracht. Dieses Vertrauen ist schmählich missbraucht worden. Jetzt wäre es das Redlichste von den Regierenden, den Bürgern ihr Mandat zurückzugeben und sie neu entscheiden zu lassen.
Liminski: Alternativen der FDP?
Wir würden vor allem nicht das tun, was die beiden großen sozialdemokratischen Parteien CDU/CSU und SPD machen: den Versuch, in ein nicht funktionierendes
System weiter daran herumzudoktern. Das System der gesetzlichen Krankenversicherungen, wie wir es jetzt haben, in dem 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger drin sind, funktioniert ja offenkundig nicht. Und wenn man
jetzt meint, mit neuem Geld dieses System funktionsfähig zu machen, dann irrt man sich sehr. Wir sind der festen Überzeugung, wir brauchen einen dritten
Weg: ein Privatsystem, in dem die gesetzlichen Krankenversicherungen untereinander und mit den privaten in einen Wettbewerb gestellt werden, mit einer
Pflicht zur Versicherung für den Bürger, aber auch mit der Pflicht für die Krankenversicherer, den Bürger aufzunehmen, egal wie alt oder vorher krank der
ist, für einen Regeltarif und dann mit privatwirtschaftlichen Elementen, die abschließend noch gar nicht alle benannt werden können - von Beitragsrückgewähr hin bis zu Kostenbeteiligung und Ähnlichem ist da ja alles
möglich -, ein individuelles Paket über den Regeltarif hinaus zu stricken. Ich glaube, dass das bei fortschreitendem gesundheitlichem Fortschritt, bei
fortschreitender technologischer Entwicklung und bei alternder Gesellschaft die einzige Möglichkeit ist, ohne Zweiklassensystem an diesem Fortschritt teilhaben zu können.
Liminski: Also Privatversicherung?
Niebel: Wir wollen die gesetzlichen Krankenversicherungen in die Freiheit entlassen, wir haben dazu auch ein Konzept vorgelegt. In diesem Wettbewerb
untereinander und mit den Privaten wird es zu einem enormen Einsparungseffekt kommen. Und darüber hinaus brauchen wir Transparenz auch bei der
Anbieterseite. Hier gibt es dann alle möglichen Varianten von Tarifen, die man abschließen kann über den Regeltarif hinaus: Wer weniger zahlen will, geht zum
Vertragsarzt seiner Krankenkasse; wer bereit ist, etwas mehr zu zahlen, kauft sich meinetwegen die Drittmeinung eines anderen Arztes noch mit ein. Da sind
der Fantasie alle Türen geöffnet. Das wird der einzige Weg sein, wie wir in einer älter werdenden Gesellschaft bei fortschreitender technischer Entwicklung im
Gesundheitssystem alle mit einem guten Gesundheitssystem werden versorgen können.
LiminskI: Altersrückstellungen?
Der Grund, weshalb die privaten Krankenversicherungen ja einigermaßen gut
dastehen, besteht unter anderem darin, dass hier Altersrückstellungen gebildet werden. Was wir allerdings wollen, ist, dass diese Altersrückstellungen nicht an
die Versicherung, sondern an den Versicherten gebunden sind, so dass man auch, wenn man eine andere Versicherung findet, die besser ist, oder mit seiner
selbst nicht mehr zufrieden ist, ohne die heute noch vorhandenen Nachteile eine Versicherung wechseln kann. Natürlich brauchen wir Altersrückstellungen, ohne das wird es in der Zukunft überhaupt nicht gehen.
Liminski: Zum Haushalt, sogar die Stabilitätskriterien verspricht Steinbrück; kein Respekt?
Nicht wirklich. Eigentlich überhaupt nicht, wenn ich ehrlich bin. Denn erstens ist
dieser Haushalt mit sehr, sehr vielen Fragezeichen versehen. Viele Haushaltsrisiken sind nicht einmal annähernd abgebildet - ich nenne als Beispiel
mal nur die Entwicklung von Hartz IV. Auf der anderen Seite wird dieser Haushalt vermeintlich verfassungskonform dadurch, dass die Bürgerinnen und Bürger
abkassiert werden auf eine Art und Weise, wie es die Republik noch nicht gesehen hat. Ich möchte die Mehrwertsteuererhöhung ab Anfang nächsten Jahres mit drei Prozent ansprechen, aber auch die Versicherungssteuer
beispielsweise, die ja bei vielen gar nicht richtig realisiert wird. Dazu kommt die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge, die Erhöhung der
Krankenversicherungsbeiträge. Ich halte jede Wette darauf: Wir kriegen dann auch noch eine Gesundheitssteuer, die dann vielleicht nett "Soli" genannt wird.
Also insgesamt geht es hier mit dem Griff in die Taschen der Bürgerinnen und Bürger stetig voran. Und das kann so nicht funktionieren. Denn die Bürgerinnen
und Bürger sind diejenigen, die den Laden am Laufen halten. Wenn die von dem selbst verdienten Geld nicht genügend übrig behalten, um konsumieren zu
können, und die Betriebe, um investieren zu können, wird es keine Arbeitsplätze geben, und ohne Arbeitsplätze gibt es keine Steuereinnahmen. Und dann kann
Herr Steinbrück alles Mögliche aufschreiben, es wird im Endeffekt nicht funktionieren. Also ist hier eine Kehrtwende in der Politik nötig: mehr Flexibilität
am Arbeitsmarkt; ein einfaches, niedriges Steuersystem, das gerecht und verständlich ist. Das führt zu Arbeitsplätzen. Und Arbeitnehmer sind diejenigen, die Steuern zahlen.
Nun Auch Herr Struck hat ja mittlerweile dankenswerterweise festgestellt, dass die Mehrwertsteuererhöhung nicht nötig gewesen wäre. Das ist der einfachste
Weg für Regierende, wenn man den Bürgern in die Tasche greift und ihnen Geld wegnimmt. Richtig wäre es, die Aufgaben des Staates zu überprüfen. Dieser
Staat macht eine Menge. Er macht viel zu viel. Er macht viele Dinge, die die Bürgerinnen und Bürger besser selbst könnten, die sie wahrscheinlich auch
billiger selbst könnten. Und wenn man meint, der allumfassende Staat wird es schon richten, dann geht man in ein System, das mit der Republik, wie wir sie in
der Vergangenheit gekannt haben, nicht mehr allzu viel zu tun hat, da sind wir dann eher an sozialistische Systeme, die es ja auch schon mal gegeben hat und
wo wir auch noch, wenn wir uns gut zurückerinnern, wissen, wie wenig erfolgreich die gewesen sind.
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